Performance im Mühlenturm

GELDERN. Weiterkommen hat immer auch mit Zurücklassen zu tun. Flucht bedeutet Verlust – im mildesten Fall kommt Heimat abhanden, oft auch Identität.
Tong Mos Geschichte einer Flucht ist die Geschichte eines besonderen Verlustes. Wer sein Land verlässt – so wie es die junge Frau in ihrer Geschichte tut – wird mit dem Verlust dessen bestraft, was uns Menschen ausmacht: Es ist der Verlust des Gedächtnisses, der Vergangenheit also – des Erinnerns an alles, was war. Tong Mos Geschichte spielt in der Zukunft – in einem Europa des Jahres 2048. Es ist ein Europa, dessen Jugend aus dem besteht, was Flüchtlinge mitbringen. Die Ur-Bevölkerung: Altgewordene.
Tong Mo ist Schriftstellerin und kommt aus Peking. Sie ist eine von insgesamt vier chinesischen Residenzkünstlern, die zurzeit an dem Residenzprogramm „Residenz Niederrhein“ teilnehmen, das TAIFUN Project e.V. zusammen mit der Stadt Geldern und anderen kulturellen Institutionen am 30. April gestartet hat.
Zweieinhalb Monate lebt und arbeitet sie in Geldern. Es ist ihr erstes Mal in Europa, das erste Mal in Deutschland. Fragt man die junge Frau nach ihren Eindrücken, ergeben sich Synchronitäten zu ihrer Geschichte. Sie sehe viele ältere Menschen, sagt sie auf Englisch. Mo lebt und arbeitet im Haus des Künstlers Klaus Boegel. „Es ist etwas anderes, ob du Bücher über China liest und dir Dokumentationen ansiehst oder ob du täglich zusammen bist und arbeitest“, sagt Boegel. „Das sind andere Erfahrungen.“ Es sind auch die Erfahrungen zweier Menschen, die sich auf einer sprachlichen Brücke treffen. Um ins Gespräch zu kommen, muss jeder von ihnen auswandern – in eine andere Sprachwelt. Mo spricht kein Deutsch, Boegel kein Chinesisch. Sie treffen sich im Englischen. Auch hier ist Erfahrungsgewinn nur über Sprachverlust erreichbar.
In Mos Geschichte trifft die stumme junge Frau auf einen blinden alten Dichter, in dem sie ihren Vater zu sehen glaubt, aber es gibt nichts Gemeinsames, denn es gibt keine Vergangenheit, weil es kein Erinnern gibt. Am Ende – so viel verrät Mo – wird das Erinnern zurückkehren. Der Titel der Geschichte: „Der neue Kontinent“.
27 Seiten wird ihre Geschichte lang sein, wenn sie, von der renommierten Übersetzerin Karin Betz, aus dem Chinesischen ins Deutsche transponiert worden ist. „Der neue Kontinent“ kann als Parabel gelesen werden. Es geht – siehe oben – um die Modulation von Identität auf dem Hintergrund von Veränderung und es geht – am Beispiel der Verbindung eines stummen Mädchens mit einem blinden Mann – um die Hindernisse beim Kommunizieren und das sich Einlassen auf das Neue.
Am Montag, 9. Juli, um 19 Uhr werden Tong Mo und Klaus Boegel zusammen mit dem niederländischen Musiker Paul van Olffen eine Performance präsentieren – ein Teil des Ergebnisses von Mos Aufenthalt in Deutschland, in Geldern.
Mo wird einen Teil ihrer Geschichte vorlesen – im chinesischen Original. Ein Teil der Übersetzung wird vorgestellt und Boegel wird zusammen mit van Olffen und der Autorin agieren. Klaus Boegel: „Teile dessen, was sich da abspielen wird, sind geprobt“, aber Performance beinhaltet immer auch improvisatorische Elemente. Boegel: „Bei der Performance wird es um Metaphorisches gehen und daher ist es schwierig, im Vorhinein zu beschreiben, was sich ereignen wird.“ Titel der Performance: „Der neue Kontinent im Medizinturm“. Es geht, bildlich gesprochen, um Versuche der Heilung, denn Mos Geschichte erzählt von der Verletzung der Identität durch das Auslöschen des Erinnerns. Vor der Performance wird es eine Einführung von Marc Franz und Lico Fang geben.
Marc Franz: „Das Projekt gibt ausländischen Künstlern aus verschiedenen Sparten die Gelegenheit, den niederrheinländischen Kulturraum zu erforschen und sich von der Region, ihren Menschen und deren kulturellen Praktiken zu einem neuen Werk inspirieren zu lassen. Zweieinhalb Monate lang leben, forschen und arbeiten die Residenzkünstler gleichzeitig an unterschiedlichen Orten in der grenzüberschreitenden deutsch-niederländischen Region. Mithilfe der verschiedenen Methoden und Perspektiven internationaler Künstler versucht Residenz Niederrhein, sich Themen wie Heimat und Globalisierung, Homogenisierung und Diversität, Grenze und Identität, Fragmentierung und Integration oder Verlust und Rückkehr anzunähern. 2018 richten vier Künstler aus China ihren Blick auf die Region: In Ottersum (Niederlande) das Performance-Duo Xiao Ke x Zi Han (Shanghai), in Neuss die bildende Künstlerin Huang Jing Yuan (Peking), in Geldern die Autorin Tong Mo (Peking). Das Projekt „Residenz Niederrhein“ wird im Rahmen des INTERREG V A Programms Deutschland-Nederland ermöglicht und durch die Europäische Union (EU) mitfinanziert. Zudem wird ‚Residenz Niederrhein‘ vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
Die Performance findet am Montag, 9. Juli, ab 19 Uhr im Mühlenturm in Geldern statt und wird circa 90 Minuten dauern.

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