Spielerisch Herausforderungen schaffen

Therapiezentrum, nicht Kindergarten: Die Frühförderstelle für den Kreis Kleve hat eine weitere Nebenstelle in Rees eröffnet - hier wird Kindern zu mehr Teilhabe verholfen.

REES. Es ist rund drei Jahre her, dass der Landschaftsverband Rheinland (LVR) die Finanzierung von Therapeuten in den integrativen Kindertageseinrichtungen einstellte. „Damit hat uns die Politik einen Strich durch die Rechnung gemacht“, sagt Doris Daniels, Geschäftsführerin der Frühförderstelle für den Kreis Kleve. Bis dahin war man davon ausgegangen, mit zwei großen Häusern an den Standorten in Kleve und Kevelaer gut aufgestellt zu sein. Doch nun blieben die Kinder deutlich länger zur Behandlung, es entstand ein höherer Bedarf an Platz und Personal. Die Konsequenz: „Ein drittes Standbein“, wie es Daniels formulierte, musste her – und ist nun in Rees an den Start gegangen.

Schon mit den Jüngsten arbeiten die Therapeuten der Frühförderstelle beispielsweise an koordinativen Fähigkeiten. NN-Fotos (2): MB
Schon mit den Jüngsten arbeiten die Therapeuten der Frühförderstelle beispielsweise an koordinativen Fähigkeiten.
NN-Fotos (3): MB

Bei der Suche nach einem Standort für eine dritte Einrichtung spielte der Umstand, dass Familien aus Rees und Kalkar oft Schwierigkeiten haben, Kleve und Kevelaer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, eine wesentliche Roll06e. Tatsächlich sei die ÖPNV-Situation laut Bürgermeister Christoph Gerwers „sehr schwierig“. Entsprechend habe man bei der Stadt Rees „offene Ohren und Türen“ vorgefunden, berichtet Daniels: „Bereits nach dem ersten Gespräch hatten wir das Gefühl, hier willkommen zu sein.“

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Auf dem rund 1.500 Quadratmeter großen Grundstück an der Elsa-Brandström-Straße ist nach rund einem Jahr Bauzeit ein von Architekt Michael Wilmsen geplantes zweigeschossiges Haus mit etwa 700 Quadratmetern Raumfläche entstanden. „Die Lage ist zentral, mit gutem Anschluss an den ÖPNV“, freut sich Daniels; in nur vier Minuten sei man zu Fuß am Busbahnhof. Die Baukosten liegen bei etwa 2,2 Millionen Euro, Fördergelder kommen von der „Stiftung Wohlfahrtspflege“ und der „Aktion Mensch“.

Die Arbeit der Frühförderstelle ist noch immer bei vielen Menschen nur wenig präsent. „Wir sind kein Kindergarten, sondern ein Therapiezentrum“, betont Sonja Barthel, die stellvertretende Geschäftsführerin. Eltern kommen mit ihrem Kind zu Therapie- oder Fördereinheiten in die Einrichtung. Entsprechend gibt es auch keine großen Gruppenräume, sondern Einzeltherapie- oder Kleingruppenräume sowie Gesprächsräume zur Einbindung von Eltern und Familienangehörigen in die Therapie.

Die Therapieräume sind alle im Obergeschoss untergebracht. „Dort gibt es keine Ablenkung“, erläutert Daniels. Zwei Räume können zu einer kleinen Turnhalle zusammengefasst werden. Die Ausstattung der einzelnen Therapieräume, die alle hell und modern gestaltet sind, erinnert dann doch teilweise an einen Kindergarten – aus gutem Grund. „Wir wollen spielerisch Herausforderungen schaffen, denen sich die Kinder stellen müssen und wollen“, sagt Daniels. Mittels vieler verschiedener Spielgeräte sollen ganz unterschiedliche Reize geschaffen werden. Ziel ist es, über Neugierde, Motivation und den Spieltrieb der Kinder in die Therapie zu gehen.

In der „Turnhalle“ können die Kinder ihrem Bewegungs- und Spieltrieb nachgehen, schulen so Koordination und Motorik.
In der „Turnhalle“ können die Kinder ihrem Bewegungs- und Spieltrieb nachgehen, schulen so Koordination und Motorik.

Seit dem ersten Behandlungstag der Reeser Frühförderstelle am 27. November kümmern sich 20 Mitarbeiter um die Kinder. Zur Behandlung in die Frühförderstelle kommen Kinder von der Geburt bis maximal zur Einschulung, die einen mehrfachen Förderbedarf aufweisen. Sie erhalten, je nach Diagnostik, zielgerichtet ambulante Behandlungen durch Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Heilpädagogen, Psychologen und Kinderärzte.

Die Zuweisung der Kinder erfolgt durch einen Arzt, in der Regel einen der Kinderärzte im Kreis, mit denen die Frühförderstelle kooperiert. Deren Experten prüfen dann den individuellen Förderbedarf. „Die ‚Eintrittskarte‘ ist aber immer die Verordnung des Arztes für die Eingangsdiagnostik“, verdeutlicht Daniels.
Während Kinder im Vorschulalter auch schon mal in Kleingruppen behandelt werden, etwa wenn es um Defizite im sozialen Bereich geht, sind Säuglinge und Kleinkinder im ersten und zweiten Lebensjahr nur in Einzeltherapie. „Gerade im Säuglingsbereich ist eine Frühförderung im physiotherapeutischen sehr wichtig“, weiß Sonja Barthel. Denn: Je jünger die Kinder sind, umso plastischer sind die Möglichkeiten, sie auszubilden und zu verändern. „Wir können dann in kürzerer Zeit Fortschritte erzielen“, sagt Barthel.

Viele der Kinder, die in die Frühförderstelle kommen, weisen eine Entwicklungsverzögerung auf, etwa bei der Sprachentwicklung, bei koordinativen Fähigkeiten oder im Bewegungsapparat. „Heute müssen sie das Klettern oder Greifen in der Ergotherapie erlernen und nicht mehr, wie es früher der Fall war, beim Spielen im Wald“, sagt Doris Daniels. Ursache sei eine veränderte Kindheit, „die Kinder wachsen heute anders auf“.

Gleichzeitig hat sich aber auch das Bewusstsein für eine mögliche Entwicklungsverzögerung verändert, sagen die beiden Expertinnen: „Vor 20 Jahren beispielsweise hat man einfach akzeptiert, dass das Kind ‚anders‘ ist. Heute sagt man: Ja, das Kind ist anders – aber mit der entsprechenden Unterstützung können wir auch etwas verändern.“ Immer mit dem Ziel, die Kinder nicht nur funktional zu unterstützen, sondern ihr Leben qualitativ zu verbessern – Stichwort Teilhabe.

Den spielerischen Ansatz verfolgen die Mitarbeiterinnen der Frühförderstelle.
Den spielerischen Ansatz verfolgen die Mitarbeiterinnen der Frühförderstelle.

Aus diesem Grund konzentriert sich die Frühförderstelle nicht allein auf ihre jungen Patienten. „Wir therapieren nicht nur die Kinder“, betont Daniels, „wir beraten und begleiten auch die Eltern, sind im Austausch mit Familienangehörigen und Mitarbeitern der Kindertageseinrichtungen.“ Zudem sind die Mitarbeiter der Frühförderstelle auch in den Kitas vor Ort, nutzen die dortigen zur Verfügung gestellten Räume für Therapien, „auch mit den Erziehern“, ergänzt Daniels. „Wir führen auch Hausbesuche durch, schauen, wie der Alltag der Kinder sich gestaltet.“

Wenn Kinder die Behandlung in der Frühförderstelle beenden, gibt es laut Daniels dafür vier Gründe: die Einschulung („dann dürfen wir nicht mehr therapieren“), das Erreichen des Therapieziels, ein Platz in einer heilpädagogischen Kita oder Elternwille. „Der erste und dritte Punkt sind formale Gründe, der zweite ist der schönste Grund – denn dann ist das Kind geheilt“, sagt Daniels. Der letzte Grund sei immer „sehr schade“, aber zu respektieren.

Ebenso bedauerlich sei der „Cut“, der – zumindest in Nordrhein-Westfalen, denn in anderen Bundesländern ist dies anders geregelt – durch die Einschulung entsteht. „Aufgrund der anderen Finanzierung sind wir dann nicht mehr zuständig, deshalb müssen die Eltern wegen der weiteren Förderung zu verschiedenen Spezialisten. Es beginnt für sie oft eine Odyssee“, sagt Doris Daniels. „Aus Sicht der Kinder wäre es wünschenswert, wenn wir sie noch ein Jahr weiter begleiten könnten“, ergänzt Sonja Barthel.

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