Die Last der Jahre spüren mit
dem Alterssimulationsanzug

Der 40-jährige René Schneider fühlt sich bei seinem Experiment hilflos

ALPEN. Alle wollen alt werden, aber keiner will alt sein – dieser Spruch ist bekannt, doch was ist schlimm daran, alt zu sein? Dieser Frage ging der Landtagsabgeordnete René Schneider nun in Alpen nach. Dazu zog der 40-Jährige einen so genannten „Alterssimulationsanzug“ an.  

Alpens Behindertenbeauftragter Karl-Heinz Kohl (l.) zeigt René Schneider, MdL (Mitte) und Volker Markus vom VdK, was in Sachen Barrierefreiheit zu verbessern wäre. NN-Foto: Lorelies Christian
Alpens Behindertenbeauftragter Karl-Heinz Kohl (l.) zeigt René Schneider, MdL (Mitte) und Volker Markus vom VdK, was in Sachen Barrierefreiheit zu verbessern wäre.
NN-Foto: Lorelies Christian

Die SPD-Landtagsfraktion hatte diesen von Spezialisten entwickelten Anzug angeschafft, damit Abgeodnete auch innerhalb der Woche des Respekts „die Last der Jahre spüren“ können. Und das bestätigte Schneider schon gleich, nachdem er die Gewichtsgürtel angelegt hatte, seine Gelenke in Bandagen steckte, Handschuhe und Nackenstütze die Beweglichkeit einschränkten, eine Brille mit gelbem Glas das Sichtfeld erheblich verkleinerte und Kopfhörer ihn hinderten, normale Lautstärken zu verstehen. „Jede Bewegung fällt mir schwer“, gab er schon beim Aufstehen vom Sitz und nach den ersten Schritten zu. An den „milchigen“ Blick musste er sich gewöhnen und dass er nur noch etwas mitbekam, wenn man ihn direkt laut ansprach, irritierte ihn sehr.
Straßen überqueren- oh je jetzt wird‘s brenzlig. Gemeinsam machte René Schneider sich mit Karl-Heinz Kohl, Behindertenbeauftragter der Gemeinde Alpen und Volker Markus, Vorstandsmitglied im Sozialverband VdK im Kreis Wesel auf den Weg, begleitet auch vom Alpener SPD-Fraktionsvorsitzenden Jörg Banemann und Wolfgang Zimmermann von der SPD Alpen. Das Ziel: die neu erbaute Amaliengalerie in der Innenstadt, ein öffentliches Gebäude, das nach dem BGG NRW barrierefrei sein sollte.
Das Gangbild von René Schneider sah nicht gewohnt dynamisch aus, er schien die Beine nicht so recht anheben zu können. Zielstrebigkeit sieht anders aus – ständig musste er sich mit dem ganzen Oberkörper drehen, um mit der Brille sein direktes Umfeld erfassen zu können. Wo ist denn das Problem? „Es sieht alles gleichermaßen hell aus. Hier fehlen Kontraste, an denen ich mich orientieren könnte“, erklärte er sein Verhalten. Doch er fand den Eingang, begab sich zum Aufzug   und wollte gerade die Tasten des  Bedien­feldes drücken, als Karl-Heinz Kohl, selbst seit Jahren im Rollstuhl sitzend, ihn aufmerksam macht: „Und was würden Sie jetzt machen, wenn sie rechtsseitig gelähmt wären?“ Tja, Pech gehabt.  Die Tastatur ist rechts angebracht. Kohl schlägt vor, eine kleine Säule mittig aufzustellen, die jeder bedienen könnte. Und Volker Markus bringt es auf den Punkt: „Wir denken immer noch bei Barrierefreiheit nur an ebenerdige Zugänge und berücksichtigen zu wenig Seh- und Hörbehinderungen. Wenn zum Beispiel das Sichtfeld eingeschränkt ist, fehlt das dreidimensionale Sehen und Treppenstufen werden zum Hindernis.“
René Schneider nahm die Treppe, musste zur Arztpraxis die Türe selbst öffnen und stolperte prompt über einen kleinen Absatz im Eingangsbereich. Immerhin hat das Therapiezentrum nebenan das Entree besser gelöst. Hier können auch Rollstuhlfahrer in erreichbarer Höhe den Türdrücker betätigen und erhalten Einlass, ohne mit einer schweren Türe kämpfen zu müssen.
Kopfschütteln löst bei allen, die sich der Gruppe angeschlossen haben, Kohls Bemerkung aus, dass die Toiletten im Haus keinesfalls den Din-Normen für Barrierefreiheit entsprechen. Da liegt die Frage nahe, warum Kohl als Behindertenbeauftragter nicht schon in der Planung und während des Baus ein Veto eingelegt hat. „Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, doch wurden meine Hinweise nicht beachtet“, blickt Kohl mit Verägerung zurück.
Immerhin soll es laut Bürgermeister Thomas Ahls zu Nachbesserungen kommen – die Arztpraxen gehören der Gemeinde, sie ist also zuständig.
Doch René Schneider war nicht gekommen, um Kritik am Neubau der Amaliengalerie zu üben, sondern wollte allgemein auf die Situation von Senioren aufmerksam machen. Beim Geldabheben am Automaten fühlte er sich regelrecht „mulmig“. „Ich konnte nicht hören, ob hinter mir jemand reinkommt, musste mich voll auf die Tastatur konzentrieren und bekam auch nicht mit, was rechts und links um mich rum passierte. Ein absolutes Gefühl der Hilflosigkeit hat mich beschlichen“, fasst er seine Erfahrungen im Alterssimulationsanzug zusammen. Und er rät dazu, dass jeder sich einmal in diese Situation reinversetzen sollte. Natürlich gibt es technische Hilfsmittel und Möglichkeiten, zum Beispiel durch längere Ampelphasen das Alltagsleben für Menschen mit Handicaps zu erleichtern, doch vor allem sollten  wir den Mitmenschen mit Respekt begegnen und unsere Hilfe anbieten, wenn es möglich ist-so das Fazit von Schneider.

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