Alltagsmenschen in der Stadt

REES. Das Recherchieren ist einfach. Jeder gibt Auskunft. Fragt man Ludger Beltermann, wie die Alltagsmenschen nach Rees kamen, fällt schnell ein Name. „Der Andreas war‘s.“

Das Treffen in Telgte
Ludger Beltermann ist Kulturamtsleiter in Rees und erinnert sich, dass Bauhofleiter Andreas Böing die Alltagsmenschen in Telgte traf. Böing kam zu Beltermann und übergab einen Flyer: „Das könnte was für uns sein.“ Beltermann reiste nach Telgte – Familie im Gepäck – sah die Alltagsmenschen, war begeistert  und nahm Kontakt zu deren Mutter auf: Christel Lechner. 155 Alltagsmenschen hat die Bildhauerin geschaffen. 66 werden ab sofort in Rees zu sehen sein – an 23 Standorten.

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Selfie
Ludger Beltermann lud die Lechner nach Rees ein und sie fand, die Stadt sei ein guter Platz für ihre Alltagsmenschen. Beltermann und Lechner bereisten den Stadtkern und suchten nach geeigneten Plätzen. Nicht alles geht. Die Lechner hätte gern ein paar ihrer Menschen auf den Kribben postiert – jenen Zungen, die in den Rhein ragen und ihm die Kraft nehmen sollen. Das allerdings war leider nicht möglich, denn Lechners Alltagsmenschen  sind Magnetmenschen – sie locken die Besucher zu sich heran. Die wirklichen Menschen neigen dazu,  Lechners Alltagsmenschen als Kontaktpersonen anzusehen – sich mit, neben, zwischen ihnen zu postieren und dann zum Selfie zu gerinnen: Wirklichkeit plus Alltagsmensch. Zu gefährlich, wenn derlei sich auf den Kribben abspielt. Immerhin: Auch im Stadtgebiet finden sich reichlich interessante Stellen. Der Froschteich beispielsweise: Drei Grazien im Einteiler sonnen sich im grünen Gras und werden auch dann auf der Wiese liegen, wenn Wind und Wetter ihnen zusetzen. Auf dem Teich: Ein Herr im Rettungsring. Irgendwie erinnert er an einen der beiden Badewannenmenschen von Loriot, wie er da so zeitverloren zwischen den Karpfen treibt.

Polonaise
Auf dem Markt: Eine Polonaise. Die Einladung zum Mitmachen. Irgendwie fühlt man sich gerufen, dazuzutreten – einen Platz einzunehmen zwischen jenen Alltagsmenschen, deren Erschaffung pro Mensch an die zwei Monate in Anspruch nimmt. So sagt es Christel Lechner, die den Aufbau dirigiert und sich freut, ihre Alltagsmenschen jetzt in Rees zu sehen. Natürlich beantwortet sie Fragen – dabei sind doch ihre Alltagsmenschen schon Antwort genug.
Lechner macht das Normale zum Besonderen. Ihre Alltagsmenschen lösen das museale Paradox: „Bitte nicht anfassen“, würde normalerweise auf Schildern gefordert. Lechners Alltagsmenschen sind zum Anfassen gedacht. Man darf sie umarmen – sich mit ihnen ablichten lassen, sich mit ihnen zeigen. So entsteht diese wunderbare Wechselwirkung zwischen Kunst und Alltag, eine Wechselwirkung, die auch für Rollentausch sorgt.  Wer Lechners Alltagsmenschen gesehen hat, kehrt verändert ins Normale zurück: Da wächst die Erkenntnis, dass die Welt nicht vom Besonderen lebt, sondern vom Alltäglichen.
Immer schon

Christel Lechner ist die "Mutter" der Alltagsmenschen. NN-Foto: HF
Christel Lechner ist die “Mutter” der Alltagsmenschen. NN-Foto: HF

Lechners Alltagsmenschen sind das Besondere und wer sich mit ihnen infiziert wird zum Teil eines Flächenkunstwerks. Die 66 Reeser Neubürger könnten normaler nicht sein – und auffälliger auch nicht. Zwei der Alltagsmenschen standen schon seit Wochen auf dem Markt vor dem Bürgerhaus: Vorhut für die Kunst. Jetzt sind die Kollegen eingetroffen und bevölkern die Stadt. Lechners Alltagsmenschen machen das Alttägliche menschlicher und sie werden, so viel scheint sicher, die Stadt ins Gespräch bringen: Mit den Besuchern, mit sich selbst. Die Stadt wird sich bei Facebook finden, bei Youtube – eben dort, wo sich das Leben abspielt. Die Alltagsmenschen sind ein Imperativ zum Fotografieren – sie sind witzig, wirklich, wesentlich. Sie kommen nicht schlau daher und besserwissend, sondern sind ein Portrait des vermeintlich kleinen Mannes. Ein Hund ist auch dabei. Ob der Hund auch ein Alltagsmensch sei, wird Lechner gefragt und sagt, was gesagt werden muss: „Ein Alltagshund.“
Komisch –  man denkt schon jetzt darüber nach, wie es wohl sein wird, wenn die Alltagsmenschen wieder abreisen. Man will diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Irgendwie gehören die 66 Neubürger schon jetzt zum Inventar. Steuern zahlen sie übrigens nicht und auch einen Erstwohnsitz haben sie nicht angemeldet. Aber sie sind da, als wären sie es schon immer gewesen. Mehr kann Kunst nicht leisten. Ein genialer Coup, der das Unverzichtbare (die Kunst) mit dem Alltäglichen verschweißt.
Ach ja: Die Alltagsmenschen sind nicht für Rees entstanden. Sie sind herumgekommen ohne heruntergekommen zu sein und wer die Lechner und ihre Truppe googelt – also ‚Lechner Alltagsmenschen‘ eingibt, kommt in 0,40 Sekunden auf ungefähr 6.770 Treffer.
Eröffnung und Führungen

Am Sonntag werden die Alltagsmenschen offiziell willkomen geheißen – Eröffnung nennt man dergleichen. Natürlich wird die Lechner da sein und auch eine kleine Führung machen. Betonung auf klein. Sie sei, sagt Lechner, nicht mehr die Jüngste. Die Knie machen nicht mehr alles mit. Trotzdem werden Führungen angeboten. Das Ziel:  Der  Kosmos des Alltäglichen. Für 4 Euro geht‘s rund: Alltagsmenschen und Stadtwissen schließen einen unterhaltsamen Pakt.
Die Termine der Führungen:  Mittwoch, 11. Mai, 14.30 Uhr; Sonntag, 29. Mai, 11 Uhr; Mittwoch, 8. Juni, 14.30 Uhr; Sonntag, 26. Juni, 11 Uhr; Mittwoch, 6. Juli, 14.30 Uhr; Sonntag, 24. Juli, 11 Uhr. Zu den Führungen ist keine Anmeldung erforderlich. Heiner Frost

Andreas Böing, Chef des Bauhofs, entdeckte die Alltagsmenschen in Telgte und sagte Kulturamtsleiter Ludger Beltermann: "Das könnte doch was für uns sein." NN-Foto: HF
Andreas Böing, Chef des Bauhofs, entdeckte die Alltagsmenschen in Telgte und sagte Kulturamtsleiter Ludger Beltermann: “Das könnte doch was für uns sein.” NN-Foto: HF
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