Anfang am Ende

Was bleibt für den nächsten Tag – was für die Woche, den Monat, das Jahr? Gefährliche Fragen, denn manchmal wird das, was bleibt mit dem verwechselt, was gut ist.
b.27:  Ein Abend – drei Stücke. Man hat das schon erlebt: Steigerungen, mit denen nicht zu rechnen war. Man wollte nach dem zweiten Stück gehen. Was sollte denn noch kommen? Dann die Explosion beim letzten Akt. Nicht für möglich gehalten.
b.27 ist ein anderer Abend. Einer, der Anfang zurücklässt. Schnell noch mal nachgeschlagen: Georges Balanchine, Choreograph, 1904 bis 1983. Igor Strawinsky, Komponist, 1882 bis 1971. Zwei Männer aus der Vergangenheit. Der eine (Balanchine)  bedient sich im Live-In-Shop des anderen (Strawinsky)  – greift „Duo Concertant“ für Violine und Klavier aus dem Regal und lässt dazu tanzen. Auf der Bühne: Die Musiker (Dragos Manza, Violine – Alina Bercu, Klavier) und ein Tanzpaar. Die Tanzrollen doppelt besetzt: Anna-Kathrin Adam/Sonia Dvorak und Marcos Menha/Brice Asnar. Ein Flügel, ein Notenständer – vier Menschen, eine ansonsten leere Bühne. Alles beginnt in den Tönen. Das Tanzpaar als Zuhörer. Dann arbeiten sie sich ins Stück und – so viel steht fest: Es gibt Choreographien, bei denen nichts zu viel ist, wo alles stimmt, wo auf der Bühne das Unglaublicheganze entsteht, das – und sei es noch so abgegriffen – mehr bietet als seine Einzelteile. Was Balanchine choreographiert hat, ist – aus dem Jetzt betrachtet – romantische Zukunft. Wer weiß schon, was es damals war? Was Strawinsky komponiert hat, ist längst mit einer zweiten Gegenwart versehen. Musik ohne Korrosions-Schicht. Der Tanz, die Musik: Eine Einheit, die man nicht mehr trennen möchte. Etwas, das nur noch im Doppelpack geboten werden sollte. Perfekte Musik hier – perfekter Tanz dort. Die Spannung entsteht aus dem Gleichgewicht, das Musik und Tanz zwar simultan anbietet, aber niemals das Eine als Diener des anderen inszeniert. Wer sich nur Musik leiht, um sie „zu vertanzen“, wird zum Raubgräber. Balanchines Strawinsky ist Strawinsky Balanchine. Nicht mehr. Nicht weniger. Das Alte ist nicht alt. Es ist das Jetzt. Muss man fragen, ob das Jetzt gealtert ist? Muss man nicht. Man bestäubt die eigene Seele mit einem Fetzen Unvergänglichkeit und begreift gleichzeitig, dass die Ewigkeit nicht einem selbst gehört sondern nur dem Tanz und der Musik. Das Wunderbare: Es schmerzt nicht. Natürlich könnte beschrieben werden, wie das Stück endet. Aber: Dieser Schluss setzt auf das eigene Erleben. Man darf das nicht vorkauen. Das wäre zersetzend. Es würde bedeuten, dass die Verdauung vor dem Mahl beginnt. Was lässt sich sagen? Man muss das gesehen haben. Man muss mit diesem Stück ins Dunkel gleiten. Wenn der Vorhang fällt: Ton und Bild abschalten. Das wäre eine Idee. Vielleicht die falsche, denn für das, was stattfand, ist erforderlich, sich die Finger wund zu klatschen und erst dann abzutauchen.
Dann: Schläpfer, Beethoven, Bach. Der Abend ändert die Richtung. Beethovens „12 Variationen über das Menuett ‘à la Vigano’ aus Jakob Haibels Ballett ‘Le nozze disturbate’ und Martin Schläpfers Choreographie finden nicht an allen Stellen zusammen und – es sei gleich gesagt: Es liegt an der Nebensächlichkeit der Töne. Ein wenig steigt das Gefühl auf, ein Dichterfürst kümmere sich um die Vertonung der Gebrauchsanleitung für einen Schnellkochtopf. Schläpfer – der Fürst. Die Musik: Ein wechselnde Dichte von Tönen. Vielleicht kann man ins Heutige wechseln: Beethovens Töne – nicht nachhaltig. Schläpfers Choreographie: Detailliert, brilliant – nicht ohne komische Momente. Wie genial es doch wäre, wenn dieser Tanz auf Töne träfe, die ihm standhalten. Auch Bühne (Thomas Ziegler), Licht (Volker Weinhart) und Kostüme (Nelly van de Velden) halten dem Tanz stand. Befeuern, beflügeln, verlängern ihn in den Raum – hin zu den Addressaten: Dem Publikum. Aber Beethovens Variationen wirken ein bisschen so, als würde man Jürgen Hingsens Zehnkämpferleben in dem einen olympischen Versagen (drei Fehlstarts führten zur Disqualifikation) von Seoul zusammenfassen. Die „Abwesenheit der Musik“ macht den ersten Teil von Schläpfers „Variationen und Partiten“ zu einer One-Compagnie-Show, die bei aller Schönheit der Bewegungen, trotz der schläpferschen Wundermischung aus Drama und Schwerelosigkeit  nach einem Partner sucht, der Unvergänglichkeit stiftet. Vielleicht ist das Abwesende des Anwenden ein Teil der Idee. Vielleicht könnten die Variationen als ein Weg aus der Trauer gesehen werden.
Und dann: Bach als Kammerspiel. BWV 830 – Partita in e-moll. Der Klavierklang strandet im Orchestergraben. Man sehnt sich die Töne – wie beim Strawinsky – auf eine offene Bühne. Schläpfer und Bach, so hat es den Anschein, sind auch am Ende dieses Abends noch nicht zu unzertrennlichen Freunden geworden, die ohne einander nicht können. Jetzt treffen auf der Bühne zwei Große aufeinander und führen ein Gespräch, bei dem man nicht immer sicher ist, wie gut sie sich verstehen. Bach braucht kein Brennglas – keine Übertreibung. Bach spricht für sich selbst – oder er spricht gar nicht. Manches in der Choreographie wirkt geistig asynchron. Zwei Giganten, denkt man, sind keine Garantie. Zwischendrin sagt der Kopf: Vielleicht geht es nur dir so. Vielleicht hast du einen schlechten Tag. Vielleicht passen Erwartung und Ergebnis nicht ineinander. Ja. So wird es sein.
Daher kommt die leichte Blässe. Alles ist gut. Alles passt. Alles schwebt. Manchmal verstehen sich Bach und die Szenen auf der Bühne. Sekundenbruchteilhaft gleitet alles ins Wunderbare. Man hält die Luft an. Dann platzt ein falscher Ton in die frisch erwachte Intimität zwischen eigener Seele und dem  Zwiegespräch auf der Bühne. Vielleicht müsste man’s noch mal sehen. Vielleicht muss man den Pianisten (Denys Proshayev) bedauern, der ansatzlos zwischen Nichtigkeit und Gewaltigkeit pendeln muss. Eigentlich ist es ja kein Pendeln. Es ist ein Umschalten. Einfach kann das nicht sein. Vielleicht wäre der Bach ohne den Beethoven stärker, intensiver, unverrückbarer. Im Spanischen stehen die Fragezeichen am Anfang des Satzes. Ein bisschen so wirkt es hier. Vielleicht braucht Bach keine Frage zur Einleitung. Bach taugt allemal als Antwort. Es braucht keine Frage. Der Abend endet „klassisch“. Kurt Jooss’ „Der grüne Tisch“ ist im Vordergrund Erzählballett – ein tänzerischer Ringschluss, dessen Finale ein Déjà vù des Anfangs bietet. Mit „Der grüne Tisch“ wurde Kurt Jooss über Nacht weltberühmt, liest man im Programmheft und: Ja, das lässt sich nachvollziehen. Jooss Choreographie lässt das Publikum zu keinem Zeitpunkt allein. Ein Stück interpretiert sich selbst – stellt Verständnisrequisiten zur Verfügung und eine Musik, die sich selbst erklärt und Richtungen vorgibt, die auf der Bühne eingeschlagen werden. Jooss Ballett beschreibt nicht nur die Herrschaft des Krieges – es beschreibt auch die Herrschaft des Synchronen. Was man hört ist, was man sieht. Was man sieht ist, was man hört.
Jetzt wird klar, worum es gehen könnte an diesem Abend: Es geht um die Kombinationsmöglichkeiten von stark und schwach – es geht um verschiedene Aspekte des Synchronen. Es geht um die Unterschiedlichkeit des Gespräches. Das erste Stück: Eine Unterhaltung. Schläpfers Choreographie: Eine Diskussion. Man muss nicht einer Meinung sein. Jooss’ Ballett: Ein Monolog – getarnt als Unterhaltung. Balanchine: Romantik für die Ewigkeit. Schläpfer: Skizzen zum Begriff der Koexistenz. Jooss: Ein sich selbst verzehrendes Spektakel.
Dass da eine Compagnie ist, die all das an einem Abend umsetzt – das ist schon wahnsinnig. Die Perfektion bei unterschiedlichsten Anforderungen, das Sich-Ein-Bewegen in unterschiedlichste Ansätze lässt eine positive Sprachlosigkeit zurück, die bleibt. Für den nächsten Tag. Die Woche. Das Jahr.

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b.27: Weitere Aufführungen

Donnerstag, 14. April: 19.30

Freitag, 22. April: 19.30 Uhr

Freitag, 29. April: 19.30 Uhr

Dauer: Circa 2 Stunden 45 Minuten; zwei Pausen

Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf

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