b.26 – alles ist möglich

NIEDERRHEIN. Vielleicht beginnt man am Ende – da, wo sonst der Auftritt eines ganzen Balletts erwartet würde. Brahms erste Symphonie bietet reichlich Töne für ein oppulentes Tutti-Schlussbild mit verhaltenen Untertönen. Terence Kohler bietet eine leere Bühne. Alle Tänzer: Verschwunden.
Die Zielgerade von b.26: Eine Bühne. Eine Leiter. Gefegte Ödnis. Brahms Klänge streichen übers Leere wie Wind durch eine Geisterstadt. Terence Kohlers „One“ – eine Art Reinigungsballett, das sich traut Brahms‘ Musik unbetanzten Raum zu lassen – gleich zu Beginn und später zum Finale. Die ersten Takte der Ersten Symphonie instrumentiert Kohler zu einer Art Vorspiel bei geschlossenem Vorhang. Die Musik: Mit sich allein gelassen. Das Normale in der Verkleidung der Ausnahme. Eine Geste. Die Musik, sonst eigentlich sich selbst genug, schafft Platz für eine Zweitdramaturgie. Am Ende taucht die Ahnung auf, dass ein Choreograph die Töne zurück an ihren Ursprung schenkt – die Klänge kehren zur Bühnenherrschaft zurück. Eine große Geste nach einem großen Tanzerlebnis, denn genau das ist „One“. Ein gutes Ballett muss nicht die Welt verändern, aber es ändert die Sichtweise. Ein guter Choreograph leiht sich die Töne und gibt am Ende – so paradox es klingen mag – etwas zurück, das man vorher nicht hatte.
Der Abend beginnt schleppend. August Bournonvilles Divertissement wächst auf einem anderen Mutterboden. Es scheint nicht um Mehrwert zu gehen. Die Musik kommt leergeräumt daher. Alles ist Vordergrund. Alles Hülle. Hülse. Alles irgendwie eine Nummernrevue, in der man das Glühen sucht, jenes fieberhafte Umgraben der Töne, jenes Suchen nach der zweiten Botschaft. Alles bleibt niedlich. Nichts hakt. Nichts verkantet sich. Man fühlt sich in Bedeutungslosigkeit getaucht. Ein bisschen wirkt das wie die Wollsocken unterm Tannenbaum. Mühelos die Musik. Mühelos der Tanz. So schleicht man irgendwie unberührt zur ersten Pause aus dem Saal und fragt sich, was wohl im zweiten Teil aus Mahlers Kindertotenliedern wird?
Antony Tudors „Dark Elegies“ – ein Geniestreich, der Friedrich Rückerts Texte, Mahlers Musik und die Choreographie zu jener magischen Einheit verwebt, in der sich nichts mehr trennen lässt, weil das Gefühl entsteht, die drei Ebenen seien genau so wie jetzt zusammen auf die Welt, also: aus dem Kopf gekommen. Am Bühnenrand: Der Sänger. Er sitzt auf einem Hocker. Alles Handeln: Reduziert auf das Sitzen. Singen als Kommentar. Dmitri Vargin gibt Mahlers Musik jene Stille des Ausdrucks, die ihr so oft genommen wird. Er liefert die Farbe, Orchester und Compagnie die Leinwand.  Sänger und Orchester: Kriegsberichterstatter vom Seelenschlachtfeld. Die Tänzer: Fotografen des Unsichtbaren. Das Ergebnis: Tanztheater zum Mitheulen – etwas, das sich ganz tief in die Seele gräbt. Trost und Frage an derselben Stelle. Wer nicht mitfühlt, ist vielleicht nicht anwesend. Man kriechtschwebt aus dem Saal. Vielleicht jetzt heimgehen? Was soll noch kommen? Vielleicht mit diesem Mahler im Schädel einfach gehen. Die Segel streichen – das Angefangene zu Ende bringen: Im eigenen Kopf. In der eigenen Seele.
Man kennt dieses Gefühl. Man hat es bei vielen Ballettabenden der Deutschen Oper am Rhein erlebt. Man weiß: Das Bleiben lohnt sich. Und bleibt. Die Belohnung: Terence Kohlers „One“. Eine virtuose Ausleuchtung des brahmschen Kosmos, die am Ende auch Schmerzgrenzen auslotet. Ein Choreograph, der – siehe oben – sein Ballett am Schluss an die Töne zurückverweist. Vorher: Ein Dasein in Gefangenschaft. Die Bühne: Eine Einschränkung. Tonlosgrauer Beton türmt sich ins Unüberwindbare.
Viel Düsternis. Auch den Wahnsinn meint man zu spüren – ein Wahnsinn, der noch vom Mahler herüberzuwehen scheint. Zeitlich müsste man umgekehrt denken, aber Musik und Ballett müssen nicht auf Chronologie setzen. Auf der Bühne: Betäubtes Personal – mechanischpuppenhaft zum Leben angeleitet. Selbst die Massenszenen verspitzen ein Gefühl von betongrauer Einsamkeit, aus der letztlich nur Töne Entkommen bieten.
„One“ wird zum fast unerträglichen Befreiungsakt, an dessen Ende die gesamte Compagnie – Mann für Mann und Frau für Frau – über eine Leiter aus der Szene klettert und verschwindet. Ob sich der Tanz von den Tönen befreit oder die Töne sich von den Tanzenden erlösen, bleibt ungeklärt. Ein nicht enden wollender Abschied, von dem man nicht weiß, ob man sich mit denen freuen soll, die der betontristen Kulisse entsteigen, oder ob es trostlos ist, mit den Tönen allein zu sein. Noch lange nach dem Ende des Abends ist das Bild der Wegsteigenden nicht aus dem Kopf zu löschen. Lange fragt man sich, ob sie in die Befreiung oder in eine andere Knechtschaft gestiegen sind. Man weiß nicht, wohin sie sich abgemeldet haben. Es gibt keine Antwort. Am Ende ist auch die Musik keine Hilfe.
b.26: Einer dieser Mehrwertabende, die lange im Hirn bleiben und Nachdenken anrichten. Einer dieser Abende, an denen Schläpfers Truppe zeigt, dass sie alles können und dass alles möglich ist. Heiner Frost
Weitere Aufführungen:

-Anzeige-

Freitag, 22. Januar; Samstag, 30. Januar; Samstag, 6. Februar; Samstag, 22. Fenbruar; Samstag, 16. April. Alle Aufführungen beginnen jeweils um 19.30 Uhr. Dauer von b.26: Zweieinhalb Stunden (zwei Pausen) und finden im Theater Duisburg statt.

Pas de deux aus "One". Foto: Gert Weigelt
Pas de deux aus “One”. Foto: Gert Weigelt
Vorheriger ArtikelNeujahrsempfang in Emmerich
Nächster Artikel„Beschwerden ernst nehmen“