“Weißt du was – grab’ ein Loch.”

KLEVE/KALKAR. Man möchte sich die Ohren zukleben. Aber: Wer berichten will, muss sich auf den Weg an die Kraterränder begeben. Hat man nicht alle Grausamkeiten schon angehört? Gibt es immer noch Steigerungen?
Am Montag begann vor der 4. Großen Strafkammer des Klever Landgerichtes der Prozess gegen drei Angeklagte (zwei Männer, eine Frau), denen Ungeheuerliches vorgeworfen wird. „Laut Staatsanwaltschaft sollen die 37-Jährige Angeklagte und ihr Ehemann in ihrem Haus in Kalkar-Grieth über längere Zeit das spätere, zuvor obdachlose, Tatopfer als Untermieter beherbergt haben. Zum Opfer soll die Angeklagte in der Folgezeit ein intimes Verhältnis, das auch von Gewalt geprägt gewesen sein soll, unterhalten haben. Als sie im August 2014 die beiden anderen Angeklagten kennen lernte, soll sie mit einem von ihnen ein neues intimes Verhältnis begonnen haben. Da das spätere Tatopfer der neuen Beziehung im Wege stand, soll sie spätestens Mitte September 2014 beschlossen haben, dass ‚der weg muss‘. Um die beiden anderen Angeklagten dazu zu bewegen, die Tötung mit ihr durchzuführen, soll sie ihnen Mitte September 2014 berichtet haben, dass sie seit Jahren von dem späteren Tatopfer misshandelt und vergewaltigt worden wäre. Gegen Abend des 14. September 2014 sollen sodann die drei Angeklagten zu der Wohnanschrift in Kalkar-Grieth gefahren sein. Als das Tatopfer aus seinem Zimmer trat, soll einer der Angeklagten der gemeinsamen Absprache entsprechend, unmittelbar mit dem Baseballschläger gezielt und unversehens sowie mit erheblicher Wucht unter anderem in das Gesicht des Opfers geschlagen haben (auch noch, als dieses bereits am Boden lag), um ihn zu töten. Anschließend soll der aus dem Nachbarzimmer hinzugekommene zweite Angeklagte dem am Boden liegenden Tatopfer einen mit derart großer Wucht geführten Schlag gegen den Kopf versetzt haben, dass der Baseballschläger abbrach. Im Anschluss sollen die beiden Männer das bewusstlose und aus Ohren, Nase und Mund blutende Tatopfer mit einem Staubsaugerkabel die Arme und Füße auf den Rücken gefesselt und liegen gelassen haben. Der Mann soll kurze Zeit darauf verstorben sein. Die Angeklagte, die das Geschehen vom Treppenabsatz beobachtet haben soll, soll – nachdem sie die beiden anderen Angeklagten nach Hause gebracht hatte und noch röchelnde Geräusche des Getöteten vernahm – noch mehrfach auf den Kopf des Tatopfers eingetreten haben, um den Sterbevorgang zu beschleunigen.“
So steht es im Pressespiegel des Landgerichts. Es gibt Tötungen am Ende eines Strudels: Alle werden hineingesogen, aber alles hätte auch ganz anders laufen können. Man kniet sich in die Umstände. Sucht nach Gründen für eine Entgleisung. Das hier ist ein Mord ohne Rückwärtsgang – ein geplantes Verbrechen. Nirgendwo ein Erbarmen. Nichts, das sich im Rausch eines Affekts zutrug. Das hier ist eine Tat, für die man kein Verständnis mitbringen kann. Kein Verstehen. Man kann und will nicht in diesen Albtraum steigen.

Großes Besteck

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Drei Angeklagte werden von sechs Verteidigern vertreten. Zwei Staatsanwälte vertreten die Anklage. Ein Nebenklagevertreter sitzt allein am Tisch. Zwei Gutachter sind anwesend. Es ist das große Besteck. Die Erwartung für den ersten Tag: Verlesung der Anklage und zumindest eine Aussage zur Tat. Vorher: Drei Angeklagte machen Angaben zur Person. Die zwei Männer: Drehtürentäter. Rein in den Knast. Raus aus dem Knast. Rein in den Knast. Drogen. Gewalt. Diebstähle. Raub.
Daneben: Eine Angeklagte ohne juristische Vergangenheit. Es gibt nichts – keine Vorstrafen, keine Einträge im Zentralregister. Eine anscheinend normale Jugend – nichts von den Geschichten, die anzuhören und nachzuerleben man zu ertragen gelernt hat. Ein Einzelkind ohne Probleme zuhause. Nichts, das aus der Bahn läuft. Die beiden Mitangeklagten blicken auf andere Leben zurück. Als gegen Ende des ersten Tages Urteile verschiedener Gerichte verlesen werden, schweift man am Ende mit dem Zuhören ab. Es ist die Gleichförmigkeit des Unheils, die sich wie eine Narkose über den Saal legt und in die Seele kriecht.
Die Einlassung der Angeklagten zu dem, was vor Gericht Tatgeschehen genannt wird, findet nicht statt. Nachdem alle drei  Angeklagten Angaben zur Person gemacht haben, erklären die Verteidiger von Sandra S., dass ihre Mandantin nun doch noch nicht aussagen wird. Die Verteidiger der anderen beiden Angeklagten hatten gleich zu Beginn der Befragung erklärt, ihre Mandanten würden „zu einem späteren Zeitpunkt“ auch Einlassungen zum Tatgeschehen machen. Nicht jetzt. Sie erklären auch, sie hätten nicht alle Protokolle bezüglich der Telekommunikationsüberwachung zur Verfügung gestellt bekommen.  „Sie sehen mich blass werden“, sagt der Vorsitzende Richter.
Solange die Unterlagen nicht vollständig zur Verfügung stehen, wird es keine Einlassungen geben. 20 Minuten Pause. „Wir müssen das klären“, sagt der Vorsitzende Richter. Es dauert am Ende länger. Nach der Pause gibt es CDs für alle Verteidiger und die Nebenklage. Auf den CDs: PDF-Dateien mit den Protokollen der Telefonüberwachung. Der Richter erklärt nach zehn Minuten, jetzt mache man erst einmal Mittagspause. 30 Minuten. Nach der Pause: Verlesung verschiedener älterer Urteile.

Wie lange wird es noch dauern?

Gerichtstage quälen sich manchmal dahin. Nichts passiert. Nichts jedenfalls, was den Laien weiter bringt. Die Erwartung: Eine Angeklagte äußert sich zur Tat. Die Wirklichkeit: 90 Minuten zu Beginn: Personalien. Dann: 20 Minuten Pause. Dann: Die Sache mit den Protokollen. Dann: 20 Minuten Pause, die zu 40 Minuten werden. Dann: Zehn Minuten Erörterung. Dann: 30 Minuten Mittagspause. Dann: Verlesung verschiedener Urteile. Es ist nicht leicht, konzentriert zu bleiben und man beobachtet Prozessbeteiligte, deren Köpfe schwer werden und in Richtung der Brust sinken. Der Richter liest und liest und liest. Liest von Einbrüchen, schwerem Raub, Drogenmissbrauch, Geldfälschungen, Fahren ohne Fahrerlaubnis – er liest von Einzelstrafen, die zu Gesamtstrafen werden, von Jugendstrafen, immer wieder von Bewährungen, später von Knasterfahrungen. Gegen 14.45 Uhr fragt einer der Verteidiger den Vorsitzenden: „Was wird denn noch vorgelesen?“ Man meint, in seinem Ton ein Flehen zu hören. Wie lange wird es noch dauern? „Im Prinzip sind wir für heute durch.“
Was, denkt man sich, muss passieren, dass drei Menschen einem anderen mit einem Baseballschläger brutal den Kopf einschlagen, so brutal, dass sogar der Schläger zu Bruch geht, ihn mit einem Staubsaugerkabel fesseln … Man will es nicht wissen, aber es führt kein Weg zum Urteil, wenn man sich nicht ins Zentrum der Tat begibt. Ferdinand von Schirach schreibt in einem seinem Bücher, dass in Berlin 15 Mal so viele Baseballschläger gekauft werden wie Basebälle.
Am Ende des ersten Tages: Verständigungen. Ist zum zweiten Verhandlungstag mit den Einlassungen zu rechnen? Ja. Sollte man dann nicht die Zeugen „umladen“, damit sie nicht unnütz auf dem Gang warten, während im Saal die Tat besichtigt wird? Ein Zeuge ist für 9 Uhr geladen. „Das verschieben wir nach hinten“, sagt der Vorsitzende. Alles andere: Wie geplant. „Wir haben hier schon alles erlebt. So was kann nach einer Viertelstunde vorbei sein.“ Bei drei Angeklagten, die von einer Tat erzählen?
In der Kantine sagt einer, der keinen Platz mehr findet: „Mord ist gut für‘s Geschäft.“ Die Erinnerung ist eine eigenartige Maschine. Was bleibt vom ersten Tag. Vorsitzender zur Angeklagten: „Wie ist das Verhältnis zu ihrem Mann?“ Angeklagte: „Sehr gut. Zu meinen Eltern auch. Die kommen regelmäßig zu Besuch und mein Mann wohnt jetzt bei denen.“ Auf den Tischen der Verteidiger: Namensschilder. Auf einem steht: RA Miseré.

Die Täter sagen aus

Der zweite Tag im Prozess um den brutalen Mord an einem jungen Mann, dem mit einem Baseballschläger der Kopf zertrümmert und das Leben genommen wurde und den man am Tag darauf in einem Loch in der Einfahrt des Hauses verscharrte, war über weite Strecken nur schwer zu ertragen.
Zu unvorstellbar die Tat. Zu unsinnig. Zu grundlos. Im Zentrum: Die Aussagen der Angeklagten Sandra und Sven. Was ist schon Wahrheit? Vielleicht lässt sich diese Frage nicht beantworten, weil man bereits an der Frage scheitert, was Erinnern ist. Über 90 Minuten dauert allein die Befragung von Sandra S. Sie trifft das spätere Opfer erstmals 1998. Damals wohnt sie noch nicht in Kalkar. Die beiden verlieren sich aus den Augen, treffen sich erst sieben Jahre später wieder. Sandra S. ist verheiratet. Das spätere Opfer: Zunächst etwas wie der beste Freund – einer, dem sie alles erzählen kann. Ihr Ehemann: Service-Monteur. Viel unterwegs. Das Ehepaar wohnt in Reken. Irgendwann nehmen sie das spätere Opfer bei sich auf. Alles ist in Ordnung. Dann, so erzählt Sandra, habe Mark etwas von ihr gewollt. Aus dem besten Freund wird im Laufe der Erzählung ein Monster, einer, der sie immer wieder vergewaltigt, einer, dessen Wutausbrüche wie Eruptionen stattfinden. Einer, der alles, was in seinem Leben schief läuft, auf sie projeziert. [„Ich wollte mir ein T-Shirt machen lassen. Auf dem hätte dann gestanden: Ich bin an allem schuld“, sagt Sandra.] Sie nutzt schrille Farben und erstmals fragt man sich, warum „ein Monster“ weiterhin Teil ihres Haushaltes bleibt? Warum wird er nicht einfach hinausgeschmissen? Er, der sie – so sagt Sandra – auch „mit Gegenständen vergewaltigt“. Warum nehmen Sandra S. und ihr Mann Mark auch noch mit, als sie von Reken nach Kalkar ziehen? Mark habe sich, so Sandra S., immer aufgeführt, als gehöre ihm alles. Als Mark mehr oder weniger zufällig erfährt, dass Sandra zeitweise als Prostituierte gearbeitet hat, brechen die Dämme. Alle Dämme. Wenn sie es für Geld mit anderen Männern macht, dann …
Nein – sie habe ihrem Mann nichts von den zahlreichen Vergewaltigungen erzählt, weil „der Mark mir gedroht hat. Er sagte, er würde mir, meinem Mann und den Hunden [Sandra hat zwei Doggen] was antun.“ Irgendwann habe sie gespürt, dass die Brutalität, mit der Mark sie vergewaltigt haben soll, sie auch angezogen habe. „Einvernehmlich war das nicht, aber es hat mir gefallen.“ Es taucht die Frage nach Täter und Opfer auf – nach Ursache und Wirkung.

Ein Gespräch

Die Angeklagte habe einen Tag vor der Tat bei einer Freundin Rat gesucht. „Ich wollte mit dem Mark reden, aber ich habe mich allein nicht getraut.“ Sandra fragt die Freundin, ob nicht deren Freund mitkommen könne. „Zu einem Gespräch.“ Mario, einer der beiden Mittäter, muss erst nachdenken. Am Tattag eine SMS. Mario werde mitgehen. Auch Sven (er ist der dritte Angeklagte) erklärt sich „hilfsbereit“. Zwei Männer beschließen, glaubt man Sandra S., mehr oder weniger von jetzt auf gleich, sich einzusetzen. Zusammen fahren sie zu dem Haus, in dem Sandra, ihr Mann und Mark wohnen. „Mein Mann sollte montags wieder auf Montage gehen und der Mark hatte mir schon gedroht: Wenn der Ludger weg ist, dann geht es hier erst richtig los.“
Ihre Helfer warnt die Angeklagte vor Betreten des Hauses: Mark, sagt sie, sei brandgefährlich, habe überall Waffen – Messer, Pistolen … Sie drückt Sven einen Baseballschläger in die Hand. [„Den hat mein Mann mir mal als Souvenir mitgebracht.“ Richter: „Spielen Sie Baseball?“ Angeklagte: „Nein.“).
Die drei gehen in die erste Etage. Sandra klopft an Marks Tür, geht hinein, spricht mit ihm. Er keift sie an. Sie verlässt das Zimmer, geht zur Treppe und hört hinter sich, wie der erste Schlag das Opfer trifft. Nein, sie hat nicht gesehen, wer geschlagen hat. Sie war ja auf dem Treppenabsatz und kommt erst wieder nach oben, als das Opfer auf dem Bauch liegt und sich nicht mehr rührt. Man fesselt den schwer Verletzten und lässt ihn liegen. Sandra bringt Sven und Mario nach Hause, kehrt dann an den Tatort zurück. Sie schaut nicht mehr nachdem Opfer. Dass sie per SMS mitteilt, sie habe bei der Rückkehr auf einen noch Lebenden eingetreten – Angeberei. In der Auswertung von Sandras Chattverkehr findet sich unter anderem eine von ihr nach der Rückkehr verfasste Nachricht: „War wohl nix. Das Vieh lebt noch. Insektenspray hat nix genützt.“ Und später: „Was für eine Nacht. Die Ratte in der Falle hat sich noch gewehrt. Musste als Tierschützerin dem Vieh den Rest geben. Wusste gar nicht, dass Ratten so zäh sind.“

“Weißt du was … grab’ ein Loch!”

„Wo war eigentlich ihr Mann zum Tatzeitpunkt?“, fragt der Vorsitzende Richter. „Ich denke, der war mit dem Hund unterwegs.“ In der Nacht habe sie, so Sandra, nicht an Schlaf denken können. Sie habe überlegt, was zu tun sei. Sie habe ihrem Mann jetzt alles erzählt. Sie habe sich nicht an die Polizei gewendet, „weil doch der Sven und der Mario beide schon im Knast gesessen haben“.
Irgendwann habe sie ihrem Mann gesagt: „Weißt du was: Grab ein Loch.“ Frühmorgens am anderen Tag – es sei ein Montag gewesen – habe ihr Mann im in der Einfahrt das Loch ausgehoben. Allein. Dann habe sie Sven und Mario nochmals geholt. Die beiden hätten das Opfer nach unten getragen, in das Loch gelegt und zugegraben. „So erinnere ich den Tag.“
Eine Frau, die jahrelang massiv vergewaltigt wurde und sich nie jemandem anvertraute – die ihren Peiniger selbst nach dem Umzug mit in die neue Wohnung holte … Der Ehemann weiß von nichts. „Wenn der nach Hause kam, habe ich dem eine heile Welt gemacht.“ Irgendwann – es ist nur ein Nebenbei – erklärt die Angeklagte, sie sei enttäuscht von ihrem Ehemann gewesen. „Der hatte einen Job. Ich saß zuhause. Der reiste durch die Welt.“

Eine andere Geschichte

Dann die zweite Aussage. Vorweg erklärt einer der Anwälte von Sven, sein Mandant wolle den geraden Weg gehen – nichts beschönigen, auch, wenn es um Lebenslänglich gehe. Auch wenn, was sein Mandant getan habe, schrecklich und grausam sei.  Der Anwalt sagt auch, dass kein Mensch nur gut oder schlecht ist. Er sagt, dass sein Mandant für Menschen in dessen Umfeld ein guter und verlässlicher Freund sei, dem es nicht an Empathie mangele.
Dann: Svens Geschichte, anfangs erzählt von einem Anwalt: Ja, es gab einen Plan: Man wollte einem vorher betäubten Opfer (Sandra hatte für Mark gekocht und ihm allerlei Medizin und Drogen ins Essen gemischt) den „goldenen Schuss“ versetzen. Klartext: Das Trio war angetreten, seinem Opfer eine tödliche Dosis Heroin zu spritzen. Der Plan geht nicht auf. Als das Trio am Tatort eintrifft, brennt noch Licht im Zimmer des Opfers. Vielleicht hat die Sache mit der Betäubung nicht funktioniert. [Vielleicht, denkt man, ist die Sache mit dem Essen und der Betäubung nur eine Beruhigungsgeschichte von Sandra für die beiden Männer. Längst gibt es einen Plan B. Aber: Gab es einen Plan A? Im weiteren Verlauf betont Sandras Verteidigung immer wieder, es sei um ein Gespräch gegangen.] Sandra S. warnt die beiden Mittäter nochmals eindringlich vor einem unberechenbaren Mark. Es wird nicht wirklich klar, ob Sandra Sven den Baseballschläger in die Hand drückt oder ob er selber danach greift. Oben angekommen betritt Sandra, nachdem sie zuvor angeklopft hat, Marks Zimmer. Ein Streitgespräch. Sandra verlässt das Zimmer, Mark folgt ihr. Jetzt greift Sven ein. „Ich habe dem gleich eine gegeben“. Sven trifft Mark mit dem Schläger am Kopf. Der taumelt zurück in sein Zimmer, geht zu Boden und „bekommt noch einen“. „Der hat mit den Armen versucht, das abzuwehren, aber ich habe ihm auf die Arme geschlagen.“
Während die Tat im eigenen Kopf zu Bildern wird, realisiert man, dass im Zuschauerraum die Eltern des Opfers Zeugen dieses Todes werden. Dass sie da sitzen und sich all das anhören. Sie hören, dass Sven sich auf das Opfer setzt und noch zweimal mit der Faust in dessen Gesicht schlägt. Sie hören, dass Mario vergeblich versucht, zum „goldenen Schuss“ zu kommen. Es gelingt nicht. Sie hören von Sven, dass Mario danach den Schläger übernimmt und mindestens einmal zuschlägt. Sie hören: Der Schlag ist so wuchtig, dass der Schläger zu Bruch geht – so wie der Schädel des Opfers. Sie hören von Sven, dass Sandra nicht treppabwärts stand. Dass sie sehr wohl etwas mitbekam. „Sie hat im Türrahmen gestanden und alles mit angesehen“, sagt Sven. [Besser gesagt ahnt man, dass er das sagt. Sven spricht leise. Wieder einmal findet ein Teil der Verhandlung „unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt“, die verzweifelt versucht, der Aussage irgendwie zu folgen. Die Akustik im Saal: Ein unausgesetztes Ärgernis. Eine akustische Zumutung. Irgendwann fragt einer der Verteidiger, ob man nicht ein Mikrofon installieren könne.] Dann der Gedanke: Was, wenn Sandras Eltern im Saal säßen? Dasselbe Nichtaushaltenkönnen aus einer anderen Perspektive.
Für das Gericht geht es um anderes. Es geht darum, ob das Opfer noch gelebt hat, als Sandra nach der Tat die beiden Männer zurückbrachte. Es geht darum, ob es zwischen Sandra und Sven eine sexuelle Beziehung gegeben hat und – wenn ja – wann. Wer hat wem wann von der Tat erzählt?
Im Anschluss an die Aussagen von Sandra und Sven: Ein Kurzauftritt des Ehemanns. Er macht unter Zuhilfename eines Rechtsbeistandes von seinem Recht Gebrauch, keine Aussage machen zu müssen. Zwischen ihm und Sandra ein kurzer Augenkontakt und eine beschwichtigende Handbewegung der Angeklagten: „Bleib ruhig“, sagt die Bewegung.

Schreckensnebel

Mario, der dritte Angeklagte, wird sich, sagen seine Anwälte,  erst später äußern. Der zweite Tag: Ein Schreckensnebel. Für das Gericht geht es um die Klärung der relevanten Fakten. Ließen die Männer, als Sandra sie wegbrachte, einen Toten zurück? Man versucht, eine Vorstellung des Tattages heraufziehen zu lassen. Man sucht nach einem Augenblick der Gnade, den das Opfer erfahren hat. Es gibt keinen. Stattdessen gibt es einen Satz, den die Angeklagte ihrem Opfer gesagt haben soll: „Stirb wie ein Mann.“ Man fragt sich, in welcher Welt ein solcher Satz zu Klang wird. Man möchte losheulen. Man hört, dass Sven irgendwann darauf gekommen ist, dass Sandra all die Schreckgeschichten um all die Vergewaltigungen nur erfunden haben könnte. Man hört, dass Sven begann, um das eigene Leben zu fürchten [„Wenn die den weg machen lässt, dann vielleicht auch mich.“] Man sehnt sich nach Trost – nach einer Kleinigkeit nur, die Hoffnung macht. Aber da ist nichts. Da ist nur dieser schwarze Trichter ( ein Loch in der Einfahrt) und da ist die Justiz, die auf der Suche nach einem Urteil abwägen muss, wer wann was wollte und wer wann tot war. An einer Stelle sagt Sven sinngemäß: Er habe vor der Tat gedacht, man schnappe sich den [das Opfer], schmeiße ihn aus dem Haus, sezte ihn irgendwo aus. Und fertig. Das Opfer. Sprache macht ein Opfer zum Neutrum. Die Grammatik des Schreckens. Da wird einer entsorgt. „Rausschmeißen und aussetzen reicht nicht“, soll Sandra gesagt haben.
Es entsteht das Bild einer Frau, die alle Männer in ihrer Umgebung fest im Griff zu haben schien. Während man so denkt, kommt dieser letzte Augenblick des Zweifels. Was, wenn sie von einem Monster misshandelt wurde? Wird man zum Täter, wenn man ihr nicht glaubt? Die Rettung: Gesetzt den Fall, alles wäre so gewesen, dann rechtfertigt nichts – gar nichts – eine solche Tat.
Ein Tag wie dieser, bei dem schon das Hinhören schmerzt, zeigt Dimensionen auf: In der deutschen Sprache heißt es: Glauben schenken. Wem schenkt man Glauben? Der Angeklagten, die sich als Opfer beschreibt und einer Tat den Rücken zugedreht haben will, die nur ein Gespräch wollte und von der dann eintretenden Wirklichkeit bis zur Handlungsunfähigkeit geschockt war oder einem Täter, der – ein Lebenslänglich vor Augen – die Flucht in eine scheinbar schonungslose Wahrheit antritt? Eine Wahrheit, die ihn zu einem der Täter macht, zu dem, der den ersten Schlag führte? Was ist Erinnern, was Verbiegen? Was ist Wahrheit und was die Version, die ein Weiterleben mit der eigenen Grausamkeit ermöglicht?

Architekturen

Prozesse sind wie Gebäude. Prozessberichterstattung ist Gebäudebeschreibung. Manchmal möchte man vor der Architektur kapitulieren, denn sie lässt sich kaum in einen Gebrauchstext pressen. Alles Schreiben ist Auswahl. Was kanndarf weggelassen werden?
Der zweite Verhandlungstag: Ein Monster von Emotion und Dauer. Beginn: 9 Uhr. Ende: 17.50 Uhr. Die da verhandeln, kennen die Geschichte, die sie besichtigen. Es geht für sie darum, dass vor Gericht alles noch einmal Wort werden muss. Ein Verweis auf die Akten ist nicht genug. So fragen sich alle Beteiligten immer wieder durch die Tat und haben Ziele im Kopf – Ziele, die sich an der Marschroute orientieren. Für ein Publikum, das die Tat zum ersten Mal betritt, ist irgendwann die Grenze des Fassbaren erreicht. Fragen und Aussagen rauschen vorbei. Da ist die Verteidigung von Sandra: Es geht darum, immer wieder herauszustellen, dass Sandra ein Gespräch wollte – eines, bei dem sie (nur für den Ernstfall natürlich) auf Unterstützung, Rückhalt, Sicherung hoffen durfte. Dass manches, was die Angeklagte nach der Tat in Chatts geschrieben hat, dieses Bild stört, ist eine Art Kollateralschaden, der sich nicht verhindern lässt. Natürlich: Sandra kann mit der „Ratte“, die sie in einem der Chats erwähnt, tatsächlich eine Ratte gemeint haben. Ließe sich anderes beweisen? Dass sie irgendwann später – es ist knapp einen Monat nach der Tat – an Sven schreibt: „Das Arschloch hat mich geschwängert“ – Sandra selber sagt: Das ist nicht wahr. An Sven hatte sie – zusammen mit der Schwangerschaftsnachricht – auch geschrieben, er müsse sich keine Sorgen machen. Von ihm stamme „das“ nicht. Sandra schreibt an Sven, sie brauche Sex. Harten Sex. All das lässt sich nicht wegdiskutieren. All das muss die Verteidigung hinnehmen.

“Normalfall”

Am dritten Tag erscheint ein Zeuge, bei dem es darum zu gehen scheint, dass er aussagen könnte, die Angeklagte habe sich an ihn gewendet um „das Problem Mark“ zu beseitigen. Der Zeuge sitzt in Haft. Betritt in Handschellen den Saal. Was kann der Zeuge sagen, ohne sich selbst zu belasten? Sandras Verteidigung schlägt vor, einen Zeugenbeistand zu bestellen. Der Richter möchte sich zunächst ein Bild von dem Zeugen machen. Der würde sich selbst belasten, wenn er von dem potenziellen Gespräch – von der potenziellen Anfrage Sandras – erzählte. Eine Verteidigung auf Zehenspitzen, angespannt bis in die letzte Faser. Hier könnte alle Taktik ins Leere laufen. Noch lässt sich nicht beweisen, dass es der Angeklagten um mehr als ein „beschütztes Gespräch“ mit dem späteren Opfer ging.
Ein weiterer Raum im Prozessgebäude: Der gerichtsmedizinische Gutachter. Er bespiegelt eine weitere Demarkationslinie. Waren die Verletzungen, die das Opfer durch die Hiebe mit dem Baseballschläger erhielt, zwingend tödlich? Lebte das Opfer noch, als Sandra ihre Helfer nach der Tat nachhause brachte? All das lässt sich schon im „Normalfall“ nur schwer sagen. Der Tote lag mehrere Monate verscharrt im Boden. Eine Stunde – vielleicht – könne das Opfer den Angriff überlebt haben. Natürlich lässt sich das nicht generalisieren. Glauben schenken. Je länger sich das Bild einer jahrelang vom späteren Opfer geschundenen Frau aufrecht erhalten lässt, die – von Verzweiflung getrieben und vom Nichtmehraushaltenwollen – nicht mehr suchte als ein klärendes Gespräch, solange es nicht gänzlich unmöglich ist, dass das Opfer tot war, als Sandra die Männer nachhause fuhr – so lange sind Zweifel angebracht. Sandra als potenzielle Friedensstifterin – nicht als eine, die in Auftrag gab, dass jemand „weg muss“, der nicht mehr in den Entwurf des eigenen Lebens, der eigenen Zukunft passt …
Ein weiterer Raum: Zeugen, die Sven als einen eher ruhigen und nicht zur Gewalt neigenden Menschen beschreiben. Ein Zeuge, dem Sandra erzählt haben soll, sie und der Sven hätten „da einen platt gemacht“: „Ich habe der nicht geglaubt. So etwas passt nicht zu Sven. Ich kenne den doch.“ In einer Verhandlungspause steht er  im Innenhof des Gerichts bei Svens Frau.
Der Pole – so nannten ihn alle – ist einer, der als erster Außenstehender von der Tat wusste. Sven hat sich ihm offenbart. Der Pole: Für das Trio ein wachsendes Risiko. Ein weiteres Risiko: Die Leiche in der Hauseinfahrt. Vielleicht noch einmal aufgraben, Benzin drüber – anstecken. Aber: Es bleibt immer etwas zurück. Polizeibeamte erzählen von Vernehmungen. Von Telefonüberwachungen. Einmal, sagt einer von ihnen, hat Sandra in einem Gespräch mit ihrem Mann gesagt, sie halte das nicht mehr aus. Eine Aussage, die das Bild stützt, das Sandras Verteidigung in die Karten spielt.Dazu die Interaktionen der Verteidigungsteams. Sven hat gesagt, was zu sagen war. Kaum eine Spur von Selbstrücksicht. Unklarheiten einzig bei der Frage: Gab es eine (sexuelle) Beziehung zu Sandra oder nicht. Svens Frau sitzt jeden Tag im Saal. Mario: Auch am dritten Tag ohne Einlassung. Müsste man ein Bild seiner Beteiligung zeichnen – es wäre (noch) das eines inaktiven Dritten, der – vielleicht – mit dem „goldenen Schuss“ im Hintergrund wartet, mit der Spritze aber nicht zu Rande kam. Mario: einer, der leugnen könnte, was Sven sagt, nämlich, dass auch er, Mario, den Schläger nutzte. Dass er es war, dem der Schläger zu Bruch ging. Sandra, die nichts wollte als ein Gespräch? Mario, der nicht zum Zuge kam? Das alles ließe Sven als einzig aktiven Täter zurück  … Natürlich hält das Recht Lösungen für Menschen bereiten, die sich durch Anstiftung schuldig machen. Der Paragraph 26 des Strafgesetzbuches sagt: Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat.
Schnell wird verständlich, dass Sandras Verteidigung immer wieder herauszuarbeiten versucht, ihre Mandantin habe nichts anderes als ein Gespräch gewollt. Was wird sich beweisen lassen? Was wird Ahnung bleiben? Alle warten auf die Aussage von Mario. Man muss kein Prophet sein um zu ahnen, dass nochmals eine andere Tat besichtigt wird – zumindest wird eine neue Perspektive auftauchen. Zwischendurch bleibt Zeit zum Nachdenken.

Der vierte Tag soll die Aussage des dritten Angeklagten bringen. Vorher: Polizeibeamte und ein Zeuge, der den Vorsitzenden Richter ans Ende des Nachvollziehens bringt. Der 28-jährige Zeuge gibt auf die Frage des Gerichts nach seinem Beruf „Rentner“ an. Ja, er kannte das Opfer. Sie haben zusammen gearbeitet. „Wenn Sandra den Mark morgens zur Arbeit gebracht hat, dann haben die mich für kleines Geld mitgenommen.“ Was denn der Mark für ein Typ gewesen sei, möchte der Richter wissen. „Schon ein Ruhiger.“ Andererseits habe der auch aufbrausend sein können. „Aber der hat nie jemandem etwas getan. Der hat, wenn er sich aufregte, eher mal gegen eine Tonne getreten. Der war eine Art HB-Männchen, wenn Sie wissen, was ich meine. “ Beide – der Zeuge und das Opfer – waren an Modellbau interessiert: „Schiffe und Flugzeuge und so.“ Ein halbes Jahr haben sie zusammen gearbeitet, sich dann aus den Augen verloren. Noch läuft die Befragung ruckfrei. Ja, auch die S. hat der Zeuge gekannt. Bei der habe er sich ab und an ausheulen können. „Die hatte immer ein Ohr für mich.“ Immer wieder fragt der Richter nach Daten, Jahreszahlen und rührt ans Desolate. „Mit Zahlen hab’ ich es nicht.“ Er habe, so der Zeuge, in einer Lebenskrise gesteckt. Es ist, erfährt man, um Depressionen gegangen. Thomas Hans Günter Egon wurde im Januar von der Polizei vernommen. Er hat, deutet sich an, einiges erzählt. Als der Richter sich jetzt in die Nähe dieser Befragung gibt,  ändert sich die Stimmung des Zeugen. Er wolle am liebsten alles widerrufen, was er gesagt hat. Der Beamte, der ihn vernommen hat, hat ihm Vieles in den Mund gelegt. „Ich war genervt. Ich hatte drei Tage nicht geschlafen. Ich wollte einfach nur weg. Ich habe einfach nur immer Ja gesagt.“ Der Richter sieht es anders. „Sie sagen uns, der Beamte hätte ihnen viel erzählt und Sie hätten dann alles bestätigt. Das würde bedeuten: Lange Fragen, kurze Antworten. Es sieht aber genau andersherum aus. Kurze Frage und lange Antworten.“ Der Zeuge bleibt dabei: Er erinnert sich an nichts. An gar nichts. Der Richter belehrt den Zeugen ein zweites Mal und keine fünf Minuten später ein drittes Mal. „Da vorn sitzt der Staatsanwalt und der hört genau zu. Das ist Ihnen schon klar?“ Dann unterbricht der Vorsitzende Richter für fünf Minuten. „Ich muss mal raus. Ich muss mich beruhigen. Sie können dann noch einmal darüber nachdenken, was und wie Sie antworten möchten.“ Nach fünf Minuten erscheint der Zeuge zusammen mit einer Zeugenbetreuerin. Er kann sich noch immer nicht erinnern. „Dann ist wohl alles weitere Fragen sinnlos“, sagt der Vorsitzende Richter. Einer der Verteidiger fragt den Zeugen: „Hatten Sie Angst? Hat irgendjemand sie im Vorfeld dieser Befragung angesprochen?“ „Nein.“ Die beiden Polizisten, die die Befragung des Zeugen durchgeführt hatten, beschreiben eine andere Situation. Man habe dem Zeugen nichts in den Mund gelegt. Man habe ja Erkenntnisse gewinnen wollen. Der Zeuge habe gereizt gewirkt. Ja, es sei möglich, dass der Zeuge auch geäußert habe, er wolle nicht weiter befragt werden. Der Zeuge sei sprunghaft gewesen.

Über Bande
Das Gericht spielt über Bande. Da der Zeuge sich an nichts erinnert, müssen die Antworten aus der Befragung nun von den Befragern kommen. All das wirkt mühsam und zieht sich hin.
Dann: Mario, der dritte Angeklagte. Er stützt im Wesentlichen das bereits von Sven G. geschilderte Tatgeschehen. Er habe, so M., die Angeklagte Sandra S. circa einen Monat vor der Tat kennengelernt. Der Kontakt sei über seine Freundin entstanden, die wiederum mit dem späteren Opfer Mark M. wegen eines Drogenproblems in der LVR-Klinik gewesen sei.
Schon vor der Aussage von Mario A. hatte des Gericht dessen Freundin erlebt, die derzeit noch in Haft ist. „Ich werde nächste Woche entlassen. Dann möchte ich Mario so bald wie möglich heiraten.“ Vor diesem Hintergrund belehrt der Vorsitzende Richter die Zeugin, dass sie das Recht habe, in diesem Fall gar nicht auszusagen. „Sie sind die Verlobte des Angeklagten und müssen also gar keine Aussage machen. Für uns bedeutet das, dass es Sie nicht gibt.“ Will heißen: Wenn die Verlobte von ihrem Recht Gebrauch macht, keine Aussage zu machen, darf das Gericht diese Tatsache in keiner Weise werten.
Mario M. schildert, dass er circa eine Woche vor der Tat von Sandra und deren Problemen mit dem späteren Opfer erfahren habe. Ziemlich schnell habe sich die Meinung festgesetzt, dass die einzige Lösung darin bestehe, Mark M. zu töten. „Der hatte ja der Sandra gedroht, ihrem Mann, ihren Eltern und den Tieren etwas anzutun. Zur Polizei zu gehen, wäre keine Lösung gewesen.“ Teil des Planes sei gewesen, dem Opfer eine tödliche Dosis Heroin zu spritzen.
Die Idee, dass man auch einen Baseballschläger einsetzen wolle, sei erst auf der Fahrt zum Tatort erörtert worden. „Bevor wir dann zum Haus kamen, hat es zwei Stopps gegeben.“ Bei beiden Stopps habe man nochmals das Vorgehen besprochen. Er, so Mario M., habe die Spritze mit dem Heroin dabei gehabt. Als man am Haus angekommen und nach oben zum Zimmer des Opfers gegangen sei, habe er sich ins Nebenzimmer begeben, Sven habe mit dem Baseballschlager neben der Tür gestanden. „Ich weiß nicht mehr genau, ob die Sandra ins Zimmer gegangen ist, ob sie den Mark gerufen hat. Jedenfalls hat der Sven, als der Mark aus dem Zimmer kam, gleich zugeschlagen.“ Gesehen habe er das nicht. „Ich war ja im Nebenzimmer.“ Mario A. weiß auch nicht, wo sich Sandra während des Tatgeschehens aufhielt. „Ich glaube, die stand zunächst an der Treppe.“ Er sei erst in Marks Zimmer gekommen, als der schon auf auf dem Boden gelegen habe. Ob Mark irgendetwas gesagt hat, möchte der Vorsitzende Richter wissen. „Der hat so was gesagt wie: Was bist du denn für einer.“ Dass er, Mario, zu Sven gesagt haben soll „Gib mir mal den Schläger“ kann Mario A. weder bestätigen noch ausschließen. Fest steht für ihn: „Ich habe nur ein Mal zugeschlagen und ich weiß nicht einmal, ob ich getroffen habe.“ Die Spritze habe er dem Opfer nicht gesetzt. Da habe es eine Sperre in seinem Kopf gegeben. Er habe den Kolben aus der Spritze gezogen, den Inhalt auslaufen lassen und die Spritze dann auf den Tisch gelegt. Ja – einen Satz mit dem Inhalt „Stirb wie ein Mann“ hat es gegeben, aber Mario A. weiß nicht mehr, wer den Satz gesagt hat. Sven habe das Opfer gefesselt. Kurz darauf „hat Sandra uns nachhause gefahren“. Das Opfer habe noch geröchelt und sich bei der Fesselung geringfügig gewehrt. Er habe, so Mario A., die Hoffnung gehabt, „der Mann von Sandra kommt nachhause und irgendwie kommt alles noch in Ordnung.“ Nach der Tat enden alle Töne. Das weitere Geschehen – eine Art Stummfilm. „Keiner hat etwas gesagt.“ Erst am Folgetag habe Sandra angerufen und nochmals um Hilfe gebeten. Es ging darum, die Leiche in das dafür ausgehobene Loch zu schaffen. „Als wir nach oben kamen, lag der Tote nicht mehr in dem Zimmer, wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Er lag jetzt auf dem Flur und war mit einer Decke verhüllt.“ Man habe die Decke nicht mehr abgenommen. „Wir haben den dann runtergetragen, in das Loch gelegt und danach zugeschüttet.“
Man hört all das und bemerkt, dass auch Grausamkeit taub macht. Drei Mal ist die Tat geschildert worden. Und längst hat eine Form der Gewöhnung eingesetzt. Mario A. schildert alles sehr ruhig, irgendwie besonnen – erweckt den Eindruck, dass er möglichst präzise alles schildern möchte. Sagt, dass er all das aus heutiger Sicht nicht verstehen kann. Von einem der beiden Gutachter befragt, wie lange die Autofahrt zum Tatort ungefähr gedauert habe, schätzt Mario „20 Minuten“. „Haben Sie während dieser Zeit auch daran gedacht, einfach nicht mehr mitzumachen?“ Gedacht habe er daran. Aber gesagt habe er nichts.
Dass Sandra am Tatabend, nachdem sie die beiden Mittäter nachhause gebracht hat, nochmal auf das Opfer eingetreten haben soll, weiß Mario nur vom Hörensagen. Vor der Tat hat er sich regelmäßig sowohl mit Sandra S. als auch mit Sven G. getroffen. Nachher seien die Treffen immer seltener geworden. Nach seiner Beurteilung des Verhältnisses von Sandra S. zum späteren Opfer befragt, sagt Mario: „Irgendwie ganz normal freundschaftlich.“ Sandra und Sven – das sei ein Techtelmechtel gewesen. Nach der Tat allerdings habe er den Eindruck gehabt, „die Sandra war sauer auf den oder vielleicht auch enttäuscht von ihm“.
„Zum Tatzeitpunkt haben Sie die Geschichte der Vergewaltigungen geglaubt. Wie sehen Sie das heute?“, fragt der Vorsitzende Richter. „Heute glaube ich das nicht mehr. Aber dieses Gefühl ist erst hier in der Verhandlung entstanden.“ Am 4. November wird die Verhandlung fortgesetzt.

Kontaminiert
Der Saal ist schon um 8.45 Uhr geöffnet. Die Fenster stehen stehen offen. Einer der Gutachter schließt sie. Er stützt sich auf der Fensterbank ab. Anschließend betrachtet er seine Handinnenfläche. „Hier müsste mal Staub gewischt werden“, sagt er. Dann: Eine kontaminierte Zeugin. Seit 6 Minuten sitzt sie mit ihrem Mann – auch er soll befragt werden – im Saal. 9.20 Uhr: Das Gericht tritt ein. Der Vorsitzende Richter zählt Köpfe. „Alle da“, sagt er und beginnt mit der Belehrung. Seitdem einer der Zeugen vom Vortag sich an nichts mehr erinnert, hat sich die Belehrung erweitert. „Denken Sie bei Ihrer Aussage daran, dass auch Sie einmal in die Lage kommen könnten, auf eine richtige Aussage angewiesen zu sein“, sagt der Vorsitzende Richter. „Wir beginnen dann mal mit Ihnen, Frau B.“ Herr B. muss so lange nach draußen. Die Verteidigung meldet sich zu Wort. Es geht um die Zeugin. Sie sei ein kontaminiertes Beweismittel, sagt der Verteidiger. Es geht darum, dass B. – eine Freundin der Angeklagten – am ersten Tag im Publikum saß. Um 9.24 geht das Gericht ab. Es muss beraten werden. Um 9.40 der Beschluss des Vorsitzenden: Die Zeugin wird gehört. Als sie am ersten Tag im Zuschauerraum saß, war sie noch nicht als Zeugin vorgesehen. Dass sie im Saal war, ändert nichts an der Aussage. Im Zentrum der Aussage von Frau B. stehen zwei Punkte, die dem Gericht wichtig sind. Es hat, im Sommer des Tatjahres – das Datum wird B.s Ehemann später mit „Es war während der WM“ eingrenzen – ein Essen gegeben. Sandra und ihr Mann und die Eheleute B. besuchten ein Restaurant, um zusammen zu essen. Sie saßen zunächst draußen. Frau B.: „Es war aber noch zu kühl. Wir sind dann ziemlich schnell rein gegangen.“ Während die beiden Ehepaare noch draußen waren, fragten Sandra und ihr Mann, ob die B.s nicht jemanden wüssten, der Mario wegmachen kann. Das Wort Mord oder Umbringen ist nie gefallen. Wenn Frau B. sagt, sie habe es so verstanden, sagt sie auch: „Ich habe das nicht ernst genommen.“ Sie und Sandra: Zuerst bekannt, dann gute Freundinnen. Dann zerstritten. Eine zeitlang haben sie sich täglich getroffen. Sandra hat B. von ihren Problemen mit dem späteren Opfer erzählt. Belästigungen. Dass diese Belästigungen auch sexueller Art waren, hat B. nicht gewusst. Wenn Sie Sandra besucht und dabei Mark getroffen hat, war er ein ruhiger, freundlicher junger Mann. Aber ab und an, wenn B. mit Sandra telefonierte, bekam sie mit, „dass der ganz schön abgehen konnte“. Der brüllte dann im Hintergrund. Der Richter sagt, es sei ja heftig, dass man bei einem Essen plötzlich gefragt werde, ob man jemanden kenne, der „einen wegmachen“ könne. „Das erlebt man ja nicht alle Tage“, sagt der Richter. Frau B.: „Das ist bei uns nichts Besonderes.“ (???) Es stellt sich heraus, dass B. und Sandra öfter mal über „ihre Männer“ klagen. Auch sie führe, sagt B., eine „heftige Ehe“. Natürlich werde da unter Mädels auch mal gescherzt, dass die Männer am besten nicht mehr da wären. „Aber wir würden doch für die nicht in den Knast gehen“, sagt sie. „Ich hatte sie vorhin so verstanden, dass Sie das ‘Wegmachen’ schon als Tötung verstanden haben“, sagt der Vorsitzende. „Ich habe schon gemerkt, dass da eine Lösung gesucht wurde, aber ich habe doch so etwas nicht geglaubt.“ Irgendwann hat Sandra ihrer Freundin erzählt, der Mark sei jetzt ausgezogen. Nach der Festnahme von Sandra und ihrem Mann bekam  B. einen Anruf von der Freundin des Angeklagten Mario, die ja jetzt dessen Verlobte ist. „Die Nadine hat mir dann erzählt, wie die Tat abgelaufen ist.“ Richter: „Die N. hat Ihnen das erzählt?“ B.: „Ja. Wir haben telefoniert. Circa 45 Minuten lang.“ Unter anderem hörte B. von der jetzigen Verlobten des Mario A., dass Sandra „irgendwann nach unten ging, sich Stahlkappenschuhe anzog und dann das Opfer getreten“ hat. Richter: „Hat denn der Ehemann von der Sandra Ihrer Kenntnis nach von den sexuellen Belästigungen seiner Frau durch das Opfer gewusst?“ „Der hat davon nichts gewusst.“ Richter: „Als es um das Wegmachen ging – haben Sie und Ihr Mann da nicht ins Spiel gebracht, man könne das Opfer auch anders loswerden?“ „Natürlich. Wir haben gesagt: Geht doch zur Polizei.“ Das würde nichts bringen. „Der“ (das Opfer) würde doch zurückkommen. „Der hat der Sandra ja immer gedroht. Er wollte ihren Eltern, den Tieren und ihrem Mann was tun.“ Richter: „Was war denn der Mark für ein Typ? Wir haben den ja nicht erlebt.“ „Klein. Drahtig.“ Richter: „Und der Herr S. – wie würden Sie den beschreiben?“ „Groß. Bullig.“ Das Verhältnis von B. und Sandra ist nach der Tat ausgekühlt. „Die Sandra hatte plötzlich kaum noch Zeit. Sie musste Marks Zimmer renovieren. Der war ja ausgezogen. Ich habe gesagt: ‘Ich kann dir doch helfen.’ Sie sagte, das würden ihre Eltern tun. Ich habe dann irgendwann zwei Fotos von dem renovierten Zimmer geschickt bekommen.“ Die Sandra habe für den einen der beiden Angeklagten geschwärmt, sagt B., als der Vorsitzende sie fragt. „Das konnte ich gar nicht verstehen. Gar nicht mein Typ.“ Ja – die Sandra habe dem späteren Opfer auch schon mal Drogen besorgt. „Im Coffee Shop.“ Sandra habe ihre Ruhe haben wollen und deshalb die Drogen herbeigeschafft. Fünf Minuten später sagt B., dass „der Mark“, wenn er unter Drogen stand, nicht ausrechenbar gewesen sei.
Herr B. ist Monteur. Er ist viel unterwegs – manchmal zwölf Stunden am Tag. Wenn er zuhause ist, will er seine Ruhe. Sonst nichts. Er hat sich bei dem Restaurantbesuch schon darüber gewundert, dass Sandras Mann ihn fragt, „ob ich jemanden kenne, der den Tp wegmachen kann“. B.: „Woher soll ich denn solche Leute kennen.“ Das meiste, was B. über die Sandra, deren Mann und das spätere Opfer wusste, hatte er von seiner Frau gehört. „Hörensagen“, betont er immer wieder und bezieht sich auf die Belehrung: „Wenn Sie etwas nur vom Hörensagen wissen, dann müssen Sie das kenntlich machen.“ Natürlich hat auch Herr B. die „Wegmachfrage“ nicht wirklich ernst genommen. Wer denkt denn an Mord? Richter: „Wurde denn ein Grund genannt, dass der Mark weg muss?“ Zeuge: „Der hat Stress gemacht, wie der drauf ist. Die haben sich gezankt. Angeblich war der auch gewalttätig.“
Längst fragt man sich, wer und wie dieses Opfer war? Ruhig, sagen die einen, unberechenbar die anderen. Jähzornig, drogensüchtigt. War Mark einer, der Sandra jaherlang sexuell und seelisch misshandelt hat – einer, der eine Katze umbrachte und der Angeklagten drohte, er werde ihr, ihren Eltern und ihrem Mann etwas antun? Das Wort Opfer ruft in der Regel die Vorstellung des Wehrlosigeit hervor – aber es ist eine Wehrlosigkeit im Augenblick der Tat – im Augenblick des Todes. Wer war Mark?

Rechtskreistheorie
Was ist eigentlich mit Frau B.s Ausführungen bezüglich ihres Telefonates mit der Verlobten des Angeklagten Mario? Früchte vom verbotenen Baum sind es nicht. Sagen Zeugen gegenüber der Polizei aus und machen später von ihrem Recht Gebrauch, beispielsweise aus Ehefrau oder -mann nicht aussagen zu müssen, dürfen die Aussagen, die im Vorhinein gemacht wurden, nicht verwendet werden. Dass die Verlobte eines der Angeklagten der B. gegenüber etwas gesagt hat? Einspruch ist nicht erhoben worden. Das Gericht müsse wissen, wie es mit einer solchen Aussage umzugehen habe, sagt einer der Verteidiger. Ein anderer verweist auf die Rechtskreistheorie.
[Die Rechtskreistheorie (auch: Schutzzwecktheorie oder Normzwecktheorie) ist ein rechtswissenschaftlicher Maßstab im Strafverfahrensrecht. Diese in der BGH-Rechtsprechung gründende Theorie besagt, dass ein Angeklagter eine Revision wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften nur auf solche Verfahrensvorschriften stützen kann, deren Schutzzweck seinen Rechtsinteressen dient.
Beispiel: Wird ein Zeuge nicht ordnungsgemäß über ein ihm zustehendes Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO belehrt, das ihm etwa wegen seiner Eigenschaft als Arzt eines Dritten, also nicht des Angeklagten, zusteht und macht darauf dieser Zeuge eine belastende Aussage, kann der Angeklagte Verfahrensfehler nicht rügen. Die Zeugnisverweigerungsvorschrift des § 53 StPO schützt den Patienten, nicht aber den Angeklagten. Auch ein Verstoß gegen das Auskunftverweigerungsrecht nach § 55 StPO und ein Verstoß gegen körperliche Untersuchungen nach § 81c StPO fallen nicht in den Rechtskreis des Beschuldigten. § 81c StPO dient nur dem Schutz der Gesundheit des Beschuldigten. Anders dagegen § 52 StPO. Dieser dient unter anderem dem Schutz der Familienbande und fällt daher in den Rechtskreis des Beschuldigen / Angeklagten.
Auf diese Grundsätze kann er jedoch nicht nur beim Rechtsmittel der Revision verwiesen werden, sondern in jedem Stadium des Verfahrens. Bei der Frage, ob ein Beweiserhebungsverbot auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, ist die Frage zu stellen, ob das Beweiserhebungsverbot, gegen das verstoßen wurde, den Rechtskreis des Beschuldigten sichern soll.]
Nach der Vernehmung von Herrn B. bekommt die Kammer eine Anregung von einem der Verteidiger. „Herr Vorsitzender, Sie hatten ja angekündigt, heute wieder eine Vorlsesestunde abzuhalten. Ich möchte ein Selbstleseverfahren anregen.“ Ein bisschen klingt das wie ein Gnadengesuch. Man hat noch die vorgelesenen Urteile des ersten Verhandlungstages im Hinterkopf. Es ist 10.22 Uhr. „Wir machen dann mal 20 Minuten Pause“, sagt der Vorsitzende und erhöht auf 30. Um 11.12 Uhr verkündet der Vorsitzende, man werde das Selbstleseverfahren auf die Telekommunikationsprotokolle anwenden und „heute nur noch zwei Gutachten verlesen. Das hätten wir ohnehin gemacht.“ Die Gutachten beziehen sich auf Blutspuren einerseits und die Suche nach Rückständen von Drogen und oder Medikamenten. Das DNA-Gutachten wird von Erklärungen umrankt, die das Hinhören nicht eben erleichtern. Dies und jenes wird erklärt. Methoden werden vorgestellt. Die Blutanhaftungen am Laminat (Nut) erweist sich als Blut des Opfers. Blut an der Stereoanlage stammt von einem der Angeklagten. Bei dem Gutachten in Sachen Drogen und Medikamente wird auf eine Leiche im fäulnisfortgeschrittenen Zustand gesprochen. Außer den Schädelverletzungen wurde ein gebrochener Unterarm festgestellt, der wohl als „Parier-Fraktur“ gesehen werden muss. Dann bewältigt der Richter mit Bravour einen minenfeldgleichen Fremdwortparcours. Lieber würde man vielleicht doch Telefonüberwachungsprotokolle gehört haben.
Nach dem Vorlesen der Gutachten gibt es noch Anregungen seitens der Verteidigung. Ein Blutspurengutachten könne man in Auftrag geben, um festzustellen, dass es womöglich wesentlich mehr Schläge gegeben habe als bisher erwähnt. Beamte der Spurensicherung könnten gehört werden. Das Gutachten bezüglich des Mageninhalts könnte verlesen werden. Nach einer weiteren Unterbrechung verliest der Vorsitzende den Bericht zum Mageninhalt des Opfers. Ansonsten wird „den Anregungen des Herrn Verteidigers“ erst einmal nicht entsprochen. Ein schönes Wochenende.

Die unsichtbare Vierte
Läss man sich auf die Planung des Gerichts ein, ist das hier der Tag vor dem Urteil. Zeugenaussagen sind geplant. Gutachten sollen folgen. Plädoyers vielleicht. Erstens kommt es anders …
Der Tag beginnt mit zwei Kriminalbeamten. Die erste Aussage ist nach vier Minuten beendet. Der Beamte hat Festnahmen mitgemacht und war ansonsten nicht in die Ermittlungen eingebunden. „Hatten Sie Auslagen?“ „Nein.“
Der zweite Beamte hat unter anderem „den Polen“ vernommen. An einem Punkt seiner Aussage erwähnt er, „der Pole“ habe erzählt, „die Sandra und die N. – die Verlobte des Angeklagten Mario A. – hätten am Tattag versucht, das Opfer aus seinem Zimmer zu locken. Haltstop. Wer? Erstmals ist der Tatort mit dem Opfer und vier weiteren Personen bevölkert. N. am Tatort? Wieso hat man vorher nichts darüber gewusst. Irgendjemand wird darauf eingehen, denkt man sich. Irgendetwas muss jetzt passieren. „Noch Fragen an den Zeugen?“ Stille. Der Beamte verlässt den Gerichtssaal. Jetzt ist es an der Zeit für die erste Person Singular. Ich folge dem Beamten auf den Gang. „Sie haben gerade bei Ihrer Aussage die N. erwähnt.“ „Sie sind von der Presse?“ „Ja.“ „Sprechen Sie mit dem Staatsanwalt. Ich kann dazu nichts sagen.“ „Aber Sie haben doch gerade etwas dazu gesagt: Ich hab’s aufgeschrieben.“ „Sprechen Sie mit dem Staatsanwalt.“ Niemand, erfahre ich später, niemand geht davon aus, dass N. am Tatort war. Es gibt nur diese eine Aussage. Auch einer der Verteidiger sieht das so. „Wir gehen alle davon aus, dass N. nicht am Tatort war.“ Auch der Pole hat in seiner Vernehmung N. nicht erwähnt. Warum eigentlich nicht? „Zum Beispiel hat niemand ihn dazu befragt“, sagt einer der Verteidiger. N. war also nie am Tatort. Auch das Gericht hat nicht nachgefragt.

Video
Ein weiterer Kripomann sagt aus. Er hat am Tag nach der Festnahme die Rekonstruktion der Tat mit der Angeklagten durchgeführt – war mit ihr am Tatort. Es gibt einen Film. Alles ist dokumentiert. Erstmals also betritt die Öffentlichkeit das Tathaus. Sie sieht den Kripomann mit Sandra S. in der Küche stehen. Die Atmosphäre: Ruhig sachlich. Die Angeklagte zeigt den Weg, den sie am Tattag mit den beiden Männern (N. war nie da!) gegangen ist. Treppauf geht es. Dort stehen Kartons und anderes Zeug. „Das alles war damals nicht hier“, sagt die Angeklagte. Der Kripomann hat noch im Erdgeschoss gefragt, wo der Baseballschläger gestanden hat. Sandra S. hat ausgesagt, dass „der Sven sich den genommen hat“. Der Schläger: An die Heizung gelehnt. Nein, Sandra S. hat, sagt der Kripomann, ausgesagt, sie habe Sven den Schläger nicht gegeben. Er habe ihn genommen. Oben wird die Situation weiter nachgestellt. Der Kripomann hat eine Papprolle zur Tatwaffe gemacht und mit nach oben genommen. Sie stehen vor der Tür zum Zimmer des Opfers. „Der Sven hat links von der Tür gestanden. Der Mark konnte ihn nicht sehen.“ Mario war in einem anderen Zimmer – rechts vom Zimmer des Opfers. Jetzt ist nicht mehr klar, ob Sandra angeklopft und Mark zum Herauskommen bewegt oder ihn einfach herausgerufen hat. Sandra erklärt, wo Mark vom ersten Schlag Svens getroffen wurde. Marks Mutter verlässt den Saal. Ihre Leidensfähigkeit ist an ein vorläufiges Ende gekommen. Sandra erzählt, wie und wohin Mark nach dem ersten Schlag getaumelt ist. Der Beamte in Opferrolle legt sich bäuchlings auf den Boden. Sandra hat Marios Aktionen nicht mehr gesehen. Sie hat – auf dem Treppenabsatz stehend – nur noch Geräusche gehört. Rückblende: Mario hat ausgesagt, einen Schlag geführt zu haben. Er wisse nicht, ob er das Opfer oder nur den Boden getroffen habe. Der Schläger jedenfalls sei zu Bruch gegangen.
Einen Beamten des Erkennungsdienstes hatte das Gericht gefragt, ob auf dem Laminatboden Schlagspuren festgestellt worden seien. „Nein.“ Für Marios Verteidigung rechtfertigt die Abwesenheit von Schlagspuren auf dem Boden keinesfalls die Annahme, sein Mandant müsse folglich das Opfer und nicht den Boden getroffen haben. Über dem Laminat lag Teppichboden. Später wird Marios Verteidiger ein Gutachten beantragen, bei dem es genau um diesen Punkt geht. Nein, sagt der Verteidiger, er wolle nicht unnütz Geld ausgeben. Auch wolle er den Prozess nicht unnötig in die Länge ziehen, aber es sei schon wichtig, dass festgestellt werde: Selbst wenn sein Mandant den Boden und nicht das Opfer getroffen habe – selbst wenn dabei der Schläger zu Bruch gegangen sei, bedeute das keineswegs, dass es deswegen Spuren auf dem Boden hätte geben müssen. Das Gericht braucht einen Moment um zu realisieren, was der Verteidiger meint, wenn er sagt, dass die Abwesenheit von Spuren nicht bedeutet, dass es keinen Schlag auf den Boden gegeben habe. „Entschuldigen Sie die doppelte Verneinung. Man hätte das auch einfacher formulieren können.“

In der Rekonstruktion ist Sandra mittlerweile auf dem Weg nach unten. Das Video ist aufgenommen, bevor in der Einfahrt nach dem Toten gegraben wird. Am Ende fragt der Kripomann Sandra S., ob sie noch ergänzende Angaben machen wolle, bevor die Aufzeichnung beendet werde. Sie habe das nicht gewollt, sagt Sandra. Die Aufnahme stammt vom 9. Januar. Zehn Monate sind vergangen. Sandra, sagt der Kripomann, habe auch in der Vernehmung gesagt, es sei um ein Gespräch gegangen. Das Gericht sieht Widersprüche. Zuerst habe Sandra sich niemandem anvertraut, weil das spätere Opfer sie, ihren Mann, ihre Eltern und die Tiere bedroht habe. Dann der Entschluss: Nun mit ihm zu reden – sich Mario und Sven anzuvertrauen. Das passe doch nicht zusammen. Auch der „goldene Schuss“ passe nicht zur „Gesprächsthese“. Vorsitzender Richter: „Hat Frau S. etwas dazu gesagt?“ Kripomann: „Diese Widersprüche konnte Frau S. auch in der Vernehmung nicht aufklären. Wir haben sie natürlich dahingehend befragt.“ In der Schilderung des Kripomannes haben Mario und Sven nicht nur beim Tragen des Leichnams in das von Louis ausgehobene Loch geholfen – jetzt haben sie auch mitgegraben. Ein Verteidiger möchte wissen, ob man Sandra S. danach gefragt habe, ob das Opfer beim Transport von der ersten Etage nach unten noch gefesselt gewesen sei. Man hat nicht danach gefragt. Sandra S. habe in Bezug auf die Tat mehrmals geäußert, die Sache sei „aus dem Ruder gelaufen“. Sie sei am Tatabend nicht mehr im Zimmer des Opfers gewesen. Sie habe am nächsten Tag „auf einem Grill“, Tapetenfetzen, Teppichreste und den Baseballschläger verbrannt. Die Aussagen, die Sandra S. bei ihrer ersten Vernehmung und am Folgetag bei der videografierten Rekonstruktion gemacht habe, seien, sagt der Kripomann, deckungsgleich gewesen. „Wir machen dann mal eine Pause und lassen das sacken“, sagt der Vorsitzende.
Danach: Wieder einmal ein Urteil aus früheren Tagen. Wieder einmal das Leben des Sven. Wieder einmal die Aussichtslosigkeit am Start. Jetzt steuert das Gericht langsam die Gutachten an und somit auch das Ende der Beweisaufnahme. Ein Ende ist in Sicht. Der Vorsitzende Richter fragt, ob es noch Beweisanträge gib. Es gibt sie. Die Verteidigung von Sandra S. möchte zwei weitere Kripoleute hören. Die Einlassungen von Mario A. bei der ersten Vernehmung sollen verlesen werden. Es gibt Widersprüche. Die Verteidigung von Mario A. sieht das anders. Man könne, sagt der Staatsanwalt, die Einlassung vielleicht als Vorhalt einbringen und den Angeklagten dann dazu befragen. A.s Verteidigung sieht das anders. Mario A., sagt der Verteidiger, sei mit der Verlesung des Protokolls nicht einverstanden.
Das Gericht möchte zunächst den ersten der beiden Gutachter hören. Er hat sich mit Sven G. beschäftigt. Zwei Termine hat es dazu gegeben. Der Gutachter sieht eine auffällig frühe kriminelle Entwicklung. Er spricht davon, dass Sven G. einer sei, der die Dinge gern kontrolliere. Einer, für den Muskelaufbau ein Zeichen der Selbstsicherheit sei. Einer, der der sich selbst als „eine Art Sozialarbeiter“ beschreibt. Man kämpft gegen das Gefühl, das hier vor dem inneren Auge ein Holzschnitt entsteht. Der Gutachter spricht von Tests, von Punkten. Spricht von einem antisozialen Menschen mit psychopatischen Zügen – kommt zu dem Ergebnis das Sven G. keinesfalls schuld- oder steuerungsunfähig war. Kein Hinweis auf Intoxikation oder Entzug- Paragrafen marschieren vorbei.
Strafgesetzbuch, Paragraf 20: Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Paragraf 21: Verminderte Schuldfähigkeit: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
Paragraf 63: Unterbrinung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Paragraf 64: Unterbrinung in einer Entziehungsanstalt: Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.
All das wird erörtert. Längst ist die Verteidigung von Sven G. unruhig geworden – dem Gutachter sogar ins Wort gefallen. An einer Stelle benutzt der Gutachter das Wort „natürlich“ an verräterischer Stelle. Dann erwähnt er eines der früheren Urteile. Es gab eine Straftat, bei der ein Baseballschläger im Spiel war. Die Beschreibung des Gutachters deutet an, G. habe den Schläger in der Hand gehabt. Sie deutet an, Leute wie G. seien womöglich an den Umgang mit Gewalt gewöhnt – seien irgendwie „heiß darauf“. Das Urteil, so die Verteidiger, sage nichts darüber, das Sven G. den Schläger in der Hand gehabt habe. Die Verhandlung wird unterbrochen. Es geht darum, die entsprechenden Stellen im Urteil zu finden. Der Gutachter, argumentieren die Verteidiger von Sven G., habe „schwerwiegende und unzutreffende Schlussfolgerungen“ gezogen. Nachzuvollziehen ist das. Wahrscheinlich, denkt man, würde jeder andere Gutachter, mit Blick auf die Schuldfähigkeit zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen, aber ein paar der hier gehörten Argumente wirken „herbeigeschafft“. Man kann die Sorge der Verteidiger verstehen. Würden sie hier nicht eingreifen, würden sie nicht sagen, ihr Mandant befürchte die Voreingenommenheit – sie wären schlechte Verteidiger. Längst ist klar geworden, dass dieser Prozess den gesteckten Fahrplan nicht wird halten können. „Nach der Mittagspause zücken sie alle Ihre Terminkalender. Wir werden mindestens zwei weitere Termine brauchen“, sagt der Vorsitzende.
Wenn acht Anwälte, zwei Gutachter und ein Nebenklagevertreter nach Terminen suchen, wird die Sache schwierig. Fast 40 Minuten braucht der Richter, um mit allen Beteiligten drei weitere Termine zu finden. Alle weiteren Sitzungen finden jetzt nachmittags statt. Für die Eltern des Opfers eine Enttäuschung. Ihre Fähigkeit, all dem hier zu folgen, um zu einem Abschluss des nicht Abschließbaren zu kommen, schrumpft mit den Tagen. Die unablässige Wiederholung führt für die einen zum Stumpfwerden der Sinne, zu Versachlichung des Unsagbaren – für die Eltern des Opfers türmt sich der Schmerz. Die Erwartung, dass der Prozess nun noch mindestens zwei Wochen andauert, ist eine zu ahnende Strapaze. Das Gericht hat sein Tagespensum abgearbeitet. „Wir werden morgen über die Anträge entscheiden.“ Morgen – ein Tag ohne Gutachter, ohne Zeugen. Ein Tag ohne Handlung.
Der Kollege von der „Zeit“ ist morgens um irgendwas nach drei in Berlin in den Zug gestiegen, bis Duisburg gefahren und dann mit dem Leihwagen weiter bis nach Kleve. Ab und an in den Pausen entfährt im ein Gähnen. Nein, Kaffee trinkt er nicht, sagt er. Wahrscheinlich sei er einer von fünf Journalisten, die keinen Kaffee trinken. Tee? „Nur wenn ich krank bin.“ Tagsüber: Kalte Getränke – Wasser, Cola, Bionade. Abends gern mal ein Bier. Der Kollege bereist die Republik in Sachen Grausamkeit. „Gerichts- und Kriminalreporter“ steht auf seiner Karte. Heute Kleve, morgen München, übermorgen … Es geht ja nicht um die Stadt. Es geht um die Prozesse. Natürlich. Dieser hier hat alle Ingredienzien – lässt kaum etwas aus. Das Bösartignormale kann besichtigt werden. In seiner ganzen monströsen Banalität. Vielleicht, denke ich, könnte man’s verfilmen. Im Kopf stehen die Bilder abrufbereit. Aber Bilder allein sind kein Film. Das hier böte den Stoff für Dokumentarisches. Menschen, die sich ins Vederben graben, nach Motiven suchen, Spuren, Hinweisen … Wie schön könnte man zeigen, dass, was zu sehen ist, hauptsächlich von der Position des Betrachters definiert wird. Sandra S.s Verteidiger findet, der Gutachter habe einen guten Job gemacht. Sei stringent gewesen. Habe sich auf nichts eingelassen. Die Verteidiger von Mario A. sehen es anders.
Dass Gericht und Anwälte nicht einmal zucken, als am Tatort in der Aussage des zweiten Kripomannes eine vierte Person auftaucht – dass einige sagen, es sei doch nach Aktenlage ganz klar, dass das nicht richtig sei – ist schwer einzuordnen. Zumindest die Schöffen, die – genau wie Publikum und Prozessbeobachter ohne Aktenkenntnis sind – hätten sich wundern, vielleicht auch nachfragen können. „Wissen Sie – es steckt so viel Quatsch in den Akten“, sagt einer der Verteidiger. „Was haben wir nicht alles gehört. Nehmen Sie die Aussage, man habe das Opfer zum Ausbluten aufgehängt?“ Trotzdem, möchte man sagen: Es sind ganz andere „Kleinigkeiten“ besprochen und aufgedröselt worden. Warum nicht diese unsichtbare Vierte? Stattdessen werden Zeugen geladen, die nicht mehr angeben, als Name, Alter, Dienstort und Dienstgrad, bevor sie (der erste Zeuge des Tages) entlassen werden, weil schnell fest steht, dass sie nicht beizutragen haben. Dann kommt einer, der N. an den Tatort erzählt, indem er die Aussage des Polen zitiert und … nichts passiert.

Die Sitzung beginnt soll um 10 Uhr beginnen. Es wird 10.14 Uhr, bis das Gericht erscheint. Es gilt, über Anträge zu befinden. Da ist der Antrag bezüglich der widersprüchlichen Aussagen von Mario A. Der Vorsitzende Richter möchte vor der Entscheidung ein paar Dinge klären. Im Dialog mit dem Richter räumt Mario A. ein, dass das in der polizeilichen Vernehmung Gesagte durchaus richtig sei, dass er aber im Nachhinein noch weitere Details erinnere. Die von ihm in der Hauptverhandlung eingeräumten zwei Stops auf der Fahrt zum Tatort sind Teil dieser nacherinnerten Fakten. Im Vernehmungsprotokoll tauchen sie nicht auf. Damals hat Mario A. den Satz „Stirb wie ein Mann“ Sven G. zugeordnet. Jetzt ist Zuordnung nicht mehr möglich. „Ich weiß aber, dass dieser Satz gesagt worden ist.“ Es gelte das, was er in der Hauptverhandlung gesagt habe. Damit gibt sich Sandra S.s Verteidigung nicht zufrieden. Zwei weitere Kripobeamten sollen gehört werden. Am Ende einigt man sich auf einen Zeugen, da der andere schwer erkrankt und nicht in der Lage sei, am nächsten Termin teilzunehmen.
Mario A.s Verteidiger gibt eine Erklärung ab. Es geht um eine Belehrung der Angeklagten. Die Verteidigung sieht es so, dass nun auch eine Anklage wegen schwere Körperverletzung mit Todesfolge in Betracht gezogen werden müsse. Den Antrag von A.s Verteidigung bezüglich der nicht vorhandenen Schlagspuren auf dem Laminat weist des Gericht zurück und weist darauf hin, dass im Antrag selbst davon ausgegangen werde, dass nicht vorhandene Schlagspuren nicht ausschließen könnten, dass A. sein Opfer verfehlt und der Schläger beim Auftreffen auf den Boden zu Bruch gegangen sei. Das Gericht weist darauf hin, dass auch beides zutreffen könne – der Beweisantrag also nicht weiterführe.
Dann: Die Befangenheit des Gutachters. Wieder wird unterbrochen. Die Verteidigung wartet auf die Übermittlung des entsprechenden Urteils. Es ist einer der Tage, an denen die Pausenzeiten das prozessuale Geschehen bestimmen. Der Befangenheitsantrag wird abgelehnt. Eine Voreingenommenheit des Gutachters kann das Gericht nicht entdecken.
Der Staatsanwalt meldet sich zu Wort. Für die Anklage komme nun auch in Betracht, eine rechtliche Belehrung bezüglich der besonderen Schuldschwere im Fall der Angeklagten Sandra S. vorzunehmen. Zum einen habe sie aus Sicht der Anklage die beiden Angeklagten Sven G. und Mario A. quasi also Tatwerkzeuge instrumentalisiert. Es hätten aus Sicht der Anklage keine Vergewaltigungen stattgefunden. Die Angeklagten Sven G. und Mario A. seien aber durch eben diese Schilderungen zu ihrer Tat „motiviert“ worden. Zum anderen sehe es die Anklage mittlerweil als erwiesen an, dass Sandra S. eine weitere Tötung, nämlich die des Polen geplant habe. Sandra S.s Verteidiger stellt unmissverständlich klar, dass, sobald es um die Feststellung der Schwere der Schuld gehe, er gemäß Paragraf 265 der Strafprozessordnung eine Aussetzung des Verfahrens beantragen werde.
§ 265: Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage: (1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.
(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigen.
(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den im zweiten Absatz bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.
(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.
Schon diskutieren die Prozessbeteiligten, ob weitere Termine vonnöten sein werden. Richter: „Wir haben noch das letzte Viertel des ersten Gutachten zu hören, danach folgen zwei weitere Gutachten, es wird ein weiterer Zeuge vernommen und dann hören wir acht Plädoyers.“ (Es plädieren: Die Staatsanwaltschaft, die Nebenklage und sechs Verteidiger.) Weitere acht Male wird die Tat besichtigt werden. Zum neunten und letzten Mal wird das Gericht bei seiner Urteilsbegründung das gesamte Geschehen noch einmal ablaufen lassen.

 

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