Das Kloster im Leben

NIEDERRHEIN. Im Autoradio: Bachs Goldbergvariationen. Im Kopf ein Widerhaken. Da ist dieser Titel, mit dem etwas nicht stimmt, wenn man ihn zweimal denkt: „Das Kloster im Leben“.
Das Gehirn merkt‘s erst im zweiten Anlauf. Es liest: Das Kloster im Leben und denkt eigentlich: Das Leben im Kloster.
Anfahrt zur Willibrord-Abtei in Doetinchem. Der Weg zu einem Autor. Plötzlich hört das Leben auf, denkt man –dabei ist es nur der Asphaltbelag der Straße. Die Landschaft: Wunderschön. Der Wald steht fast schon im Herbstkleid. Das Leben im Kloster, denkt man, aber Thomas Quartier schreibt vom Kloster im Leben. Thomas Quartier, geboren 1972 in Kranenburg, Doktor der Theologie. Quartier lehrt liturgische Studien an der Radboud Universität in Nimwegen und „Monastische Spiritualität“ an der Uni Löwen in Belgien. Thomas Quartier ist Gastprofessor an der Hochschule Sankt Anselmo der Benediktiner in Rom. Hinter seinem Namen im Klappentext des Buches steht vor dem „Dr. theol.“ ein OSB – das steht für „Ordo Sancti Benedicti“. Quartier ist Benediktiner. Er lebt in der Willibrord-Abtei in Doetinchem, zusammen mit zehn anderen Mönchen.
Zurück zum Buchtitel: „Das Kloster im Leben – Monastische Spiritualität als Provokation“ steht da. Und da steht noch: Mit einem Nachwort von Notker Wolf OSB. Drei Bücher hat Quartier über das Kloster geschrieben – eine Trilogie also, aber eine, die auch in „Einzelteilen“ denkbar ist. Das eine ist ohne das andere möglich, lesbar, denkbar. In Holland ist der dritte Teil schon erschienen, während „Das Kloster im Leben“, der zweite Teil, sich gerade auf den Weg zu deutschen Lesern macht.
Im holländischen Original heißt das Buch „Anders  leven“ – anders leben. Der deutsche Titel macht vom Cover an klar, dass es nicht um ein „beliebiges Anderes“ geht und obwohl „Das Kloster im Leben“ ohne ein Fragezeichen auskommt, ist schnell klar: Das Buch ist keine Antwort – nichts, das man durch einfaches Lesen erschließt, denn da lauert die ungestellte Frage, ob das Kloster im Leben identisch ist mit dem Leben im Kloster. Kein Rezeptbuch, keine pseudowissenschaftliche Besserwisserei.
Da macht sich jemand denkendfragend auf die Suche nach der eigenen Geschichte. Ins Kloster zu gehen ist kein Entschluss, den einer von jetzt auf gleich trifft. Das Leben im Kloster: Ein Prozess – einer, der mit dem Eintreten längst nicht beendet ist und einer, der schon gar nicht dort beginnt. Im Vorwort schreibt Quartier: „Tradition ist nicht statisch, sie ist dynamisch, indem sie provoziert.“ Und so viel steht fest: Kaum Dinge in der Welt haben mehr Tradition im Rückspiegel, aber „Tradition ist eben nicht die Bewahrung der Asche“. Quartier, das wird schnell deutlich, gibt nicht den Gralshüter. Da schreibt und denkt keiner, für den der Eintritt ins Kloster ein Abschluss ist. Kloster bedeutet für einen wie Quartier nicht, dass einer weltfremd ist, aber vielleicht, dass da einer die Welt anders sieht. Es geht vom Kleinen ins Große. Die scheinbare Einschränkung führt am Ende ins unendlich Große. Kloster ist für ihn ohne Religion nicht denkbar.
Die Widerhaken: Geht denn das, dass einer sein Kloster öffentlich macht? Ist das nicht der Widerspruch in und an sich? Einer wie Quartier tritt den Beweis an, dass hier keine Ausschlusskriterien vorliegen.
Sein „Anlauf“ in Richtung Kloster hat sieben Jahre gedauert – ein Kontinuum. Wer vom Klosterleben Sicherheit erwartet, kann enttäuscht werden. Natürlich ist das Leben im Kloster eine Art Gerüst, ein Korsett – etwas, das Halt bietet, aber Halt kommt von Haltung. „Monastischer Raum“, schreibt Quartier, „setzt eine positive Haltung voraus, keine negative Reaktion. ‚Anders  leben‘ bedeutet […] nicht, weltfremd zu werden, sondern ein gesundes Maß an Entfremdung zuzulassen. Beide Extreme, eine Pforte, die stets geschlossen ist, und eine Tür, die aus den Angeln fliegt, weisen uns auf die Dringlichkeit der Herausforderung hin, sorgfältig mit individuellen Lebensläufen, sozialen Konstellationen und gesellschaftlichen Prozessen unserer Tage umzugehen.“ Da widerlegt einer mit ein paar Sätzen das Abziehbild vom weltfremden Klosterbruder. Notker Wolf, der Autor des Nachwortes, schreibt: „Quartier unternimmt auf eine ganz eigene Art den Versuch, Klosterleben ins Leben zu bringen, nicht nur in sein eigenes, sondern in unser aller Leben.“ Wolf schreibt von dem Buch, es sei ein Leitfaden, „ohne sich in alltäglichen Trends und Tipps zu verlieren“.
Da sucht einer das Leben im Kloster, das Kloster im Leben, die Welt in sich und sich selbst in der Welt. Das Kloster ist die Heimatadresse für eine besondere Art des Denkens. Das Klosterleben – eine Art „Work in progress“. „Wenn man das Kloster im eigenen Leben betreten will, muss es eine Pforte geben. Keine grenzenlose Offenheit und keine fanatische Abgeschiedenheit“, schreibt Quartier, der zwei Tage pro Woche seiner Lehrtätigkeit nachgeht. „Früher war der Durchgang durch die [Kloster] Pforte ein definitiver Schritt. Man ging nur einmal hindurch, beim Eintritt, und kam  nie wieder hinaus, auch nicht bei der eigenen Beerdigung, da der Friedhof sich innerhalb der Klostermauern befindet. Der Lebensraum war klar umrissen, es gab keine Veränderung und keinen Weg zurück.“ Heutzutage geht es darum, das sich die „stabilitas“ einerseits – die Verankerung also  – und die „mobilitas“ gegenüberstehen. Quartier schreibt: „Wer sich in eine definitive Position zurückzieht und versucht, die Türe zu schließen, um so den Raum zu konservieren, in dem er lebt, läuft Gefahr, die Tuchfühlung zum wirklichen Leben zu verlieren.“
„Das Kloster im Leben“ ist eine Spurensuche – wer auf Lösungen aus ist, sollte in der Ratgeberliteratur fündig werden. Quartiers Buch ist etwas für Mitdenker und es lässt Raum, anderer Meinung zu sein. Ist das Leben im Kloster eine der letzten Provokationen? Man muss diese Frage nicht beantworten. Im Autoradio: Bachs Goldbergvariationen. Ein schöner Anlauf. Dann erscheint Quartier in der Tür – er trägt den Habit. Eine Art optisches Bekenntnis. Bei den Fußballfans würden sie von einer Kutte sprechen – und im Kloster auch. „Schön, dass Sie Zeit gefunden haben“, sagt Quartier. Sprechen wir über das Kloster im Leben.
Heiner Frost

Information: „Das Kloster im Leben –Monastische Spiritualität als Provokation“, 240 Seiten, erschienen bei „Butzon & Bercker“, 19,95. ISBN 978-3-7666-2238-9. Vorgestellt wird das Buch am Samstag, 22. Oktober, in der Benediktinerabtei Gerleve.

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