GELDERN. Im Rahmen der 17. Reihe „Schüler diskutieren mit Experten” fand an der Liebfrauenschule eine große Podiumsdiskussion unter der Fragestellung „Herzlich willkommen – reicht das?” zum Thema „Flüchtlinge” statt. In Arbeitsgruppen hatten Schüler die Veranstaltung vorbereitet. Vertreter aus Politik, NRW-Flüchtlingsrat, Kreishandwerkerschaft und dem Zentralrat der Muslime Deutschland diskutierten. Die Moderation übernahmen Michelle Kurlbaum und Kevin Göhring, Schüler an der Liebfrauenschule.

Podium

Ein lauter Knall ertönt. Eine scharfe Stimme befiehlt: „Zackzack, wir haben keine Zeit, der Zug fährt gleich ab! Deutschland wartet nicht auf sie! Ausfüllen bitte! Birgit Naujoks, 41, aus Bochum, Vorsitzende des NRW-Flüchtlingsrates – das können wir im Moment gut gebrauchen. Genehmigt!”. Eine eindringliche Performance, mit der die Moderatoren Michelle Kurlbaum und Kevin Göhring die Gäste der Podiumsdiskussion vorstellen. Davor hatte ein Film mit eindringlichen Bildern auf das Thema „eingestimmt”: Verzweifelte, traumatisierte Menschen in ihrer zerbombten Heimat, auf der Flucht und bei ihrer Ankunft in Deutschland. Um Rechte von Flüchtlingen in Deutschland, Aufenthaltsstatus sowie Asylverfahren geht es zu Beginn der Diskussion. Im weiteren Verlauf geht es um „ausländerfeindlichen Strömungen, eigene Handlungsmöglichkeiten, langfristige Perspektiven und die Integration von Flüchtlingen”. Drei Schüler-Arbeitsgruppen hatten zur Vorbereitung der Veranstaltung Folien konzipiert, die Hintergrundinfos einblendeten: Unter anderem zu fremdenfeindliche Straftaten, dem sogenannten „SS-Siggi” und seinem Einfluss in Deutschland, Internethetze, Vorurteilen über Flüchtlinge und die Gefahr durch rechtspopulistische Strömungen. Auch zwei Jugendliche, denen kürzlich die Flucht aus Syrien gelungen war, und die als Gastschüler an der Liebfrauenschule aufgenommen wurden, erzählen mithilfe einer Dolmetscherin, warum sie aus ihrer Heimat geflüchtet sind: „Weil wir dort zum Militär gemusst hätten und wir uns in Deutschland bessere Zukunftschancen erhoffen.” Als „lebensbedrohend” bezeichnen die jungen Leute ihre Flucht.

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Zur momentanen Flüchtlings-Situation äußert sich Birgit Zoerner, Sozialdezernentin der Stadt Dortmund: „Im Moment hat niemand die Übersicht, wir erfahren von Woche zu Woche, wieviel Menschen die Kommunen aufnehmen müssen.” Andreas Wohland, Beigeordneter beim Städte- und Gemeindeverbund NRW:„Wir haben eine enorme Zahl von Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen. Die Verteilung muss so organisiert werden, dass nicht einzelne Regionen zu stark belastet werden. Die Kommunen befinden sich im Moment noch in der akuten Versorgung der Menschen, wir reißen uns die Beine aus. Die Integration wird der Marathon werden und uns Jahrzehnte beschäftigen. Da sind der Bund und die Länder gefordert. Der viele ehrenamtliche Einsatz, bedarf einer Koordination. Die Moderatoren fragen Frank Bruxmeier, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft, weshalb man im Ausbildungszentrum Duisburg Flüchtlinge ausbilde, die keine Bleibeperspektive hätten: „Wir hatten 15 junge Männer, vornehmlich aus Afrika, die gesagt haben, das ihnen im Flüchtlingsheim die Decke auf den Kopf fällt, sie die Sprache erlernen und sich integrieren möchten, um eine Bleibeperspektive zu haben. Sie absolvieren ein Ausbildungsprogramm zum Anlagemechaniker und nun werden die ersten ausgewiesen. So, wie es im Moment läuft, halte ich die Einteilung zur Bleibeperspektive für willkürlich. Die Menschen müssen möglichst schnell integriert werden. Wir dürfen die Fehler der 60er/70er Jahre nicht wiederholen. Der Arbeitsmarkt ist momentan offen.” Ansgar Heveling, CDU-MdB, Vorsitzendere des Innenausschusses des Bundestags: „Wir sind auf Zuwanderung ein stückweit angewiesen. Wir brauchen aber ein Einwanderungsgesetz, um Zuwanderung vernünftig steuern zu können. „Wie dringend brauchen wir Einwanderer?” möchten Michelle und Kevin wissen. Bruxmeier: „Die meisten von uns haben Zuwanderungsgeschichte. Ohne Einwanderer wären wir nicht Fußballweltmeister geworden. Wir brauchen Einwanderung, im Elektronikbereich etwa haben wir 27.000 unbesetzte Stellen. Wir sollten Einwanderung als Chance sehen, aber auch Geld in die Qualifizierung investieren.”

Ahlam El-Morabiti, Projektleiterin Islamische Wohlfahrtspflege bezeichnet Zuwanderung als „eine Bereicherung.” Zu „Chancen und Risiken von Zuwanderung” äußert sich Birgit Naujoks: „Ich finde es gefährlich, wenn man Flüchtlinge unter dem Nützlichkeitsaspekt betrachtet. Alle Gesetze, die jetzt zur Integration ausgerichtet werden, richten sich immer danach: Ist derjenige wirtschaftlich verwertbar und nützlich für Deutschland? Das kann nicht im Bereich des humanitären Rechts ausschlaggebend sein.” Es gehe darum, Menschen, die aus einer schlimmen Situation kämen, eine Perspektive zu bieten. „Ich sehe das Risiko eher in einer gespaltenen Gesellschaft, in der Stimmung, die sich gegen Flüchtlinge richtet. Das sind wir als Gesellschaft verantwortlich. Wenn wir interkulturell miteinander auskommen, sehe ich Zuwanderung als Bereicherung.” Birgit Zoerner: „Das Asylrecht ist in erster Linie ein Schutzrecht. Es geht nicht darum, ob einer in der aufnehmenden Gesellschaft besonders nützlich sein kann. Es ist eine Frage, Menschen zu schützen. Im Miteinanderleben hat sich in diesem Jahr viel verändert. Innerhalb der Gesellschaft macht sich eine große Akzeptanz breit. Und das unterscheidet die Situation vollkommen von der in den 90er Jahren.”

„Ausländerfeindlichen Strömungen” sowie „Internethetze sind weitere Diskussionsinhalte. Ahlam El-Morabiti mahnt: „Man muss präventiv arbeiten, dass junge Leute nicht für die rechte Szene gewonnen werden und der Rechtspopulismus gestoppt wird.” Frank Bruxmeier: „Wir müssen bürgerschaftliches Engagement zeigen. Ich habe kürzlich wegen eines Facebook-Eintrages eine Anzeige gemacht. Wir werden damit leben müssen, dass wir 10 Prozent dieser Spinner haben.” Ansgar Heveling, CDU-MdB, Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestages: „ Diejenigen, die Internethetze betreiben, sind im wahren Leben ‚arme Würstchen’”. Moderatorin Michelle Kurlbaum: „Wie kommt es zu Angriffen auf Flüchtlinge? Meist sind es falsche oder fehlende Infos, die zu Vorurteilen oder Missverständnissen führen.” Hierzu Frank Bruxmeier: „‚Die Teilnehmer, die wir im Bildungszentrum kennen gelernt haben, sind hoch motiviert und bildungshungrig.” Viel Applaus erhält sein Kommentar: „ Ich würde mir das für so manche Einheimischen wünschen, dass sie diese Fähigkeiten mitbringen. Unsere Angebote sind für alle, aber es kommen nur sehr wenige Einheimische.” Das Handwerk suche dringend Leute. „Wir sind froh, dass sie da sind”, so Bruxmeier. Zum Punkt „Vorurteile” äußert sich Birgit Naujoks: „Wir versuchen immer, Fakten gegen Vorurteile zu setzen. Wer keine Fakten hat, setzt Parolen. Man sieht auch schon den Widerspruch: Sind sie jetzt faul oder nehmen sie uns die Jobs weg?”

 

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