Heimat auch für Zugereiste

Das diesjährige Haldern Pop Festival ist Geschichte. Ab jetzt läuft der Countdown für 2016.

HALDERN. Sonntagmorgen, 8.15 Uhr. Draußen regnet es niederrheinische Bindfäden. Während viele Besucher noch in ihren Zelten liegen und schlafen, hat der Abbau der Hauptbühne längst begonnen. Haldern Pop 2015 ist dabei, Geschichte zu werden. Der Countdown hat begonnen: Noch 365 Tage bis zum nächsten Festival. Während sich langsam aber sicher der Treck der Abreisenden in Bewegung setzt, sucht das Gehirn nach einem Ort, der mit Haldern Pop identisch sein könnte. Erste Antwort: Es kann nicht die Bühne sein. Wenn die Bühne längst auf Tiefladern verschwunden und zum Abtransport bereit ist, bleibt etwas zurück. Was also ist Haldern? Es geht nicht um einen Ort. Oder doch? Ist es die Musik? Ja. Bestimmt. Vielleicht.

Rückblende: Ein alter Mann döst auf einem alten Sessel – die Beine ausgestreckt. Die Füße auf zwei Limonadenkästen. „Weißt du, wer das ist?“, fragt einer und gibt auch gleich die Antwort. „Das ist Seymour Stein.“ Seymour Stein ist Musikproduzent. Er ist der Mann, der die Ramones entdeckte. Und Madonna. Stein ist zu Besuch in Haldern. Er ist aus New York gekommen. Er hat an einer Gesprächsrunde teilgenommen. Er hat schlecht geschlafen. Es war so verflucht heiß im Hotelzimmer. „Nice Hotel, but they didn‘t have air condition.“ Jetzt: Der Nachholschlaf. Dass einer wie Stein im Sessel hinter der Pop Bar ein Nickerchen hält, ist Teil dessen, was Haldern fertig bringt. Vielleicht also ist Haldern das, was man nicht sieht. Von den 6.500 Besuchern wissen vielleicht 40, dass Stein hier ist. Stein ist lebende LegenKondense. Was er vom digitalen Zeitalter hält, wollten sie von ihm wissen. „You know, it doesn’t matter whether it’s digital or not. If it’s shit it won’t work.“

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Tags zuvor haben sie diskutiert wie Kunst entstehen kann. Was wird gebraucht? Die Antwort: Raum. Der Raum, den die Kunst braucht, ist auch ein virtueller Ort – etwas, wo Entbindung stattfinden kann. Ein Raum, der Möglichkeiten schafft. Haldern als Möglichkeit? Auf jeden Fall. Das Festival ist nicht mehr als eine Aufforderung, aber es ist auch nicht weniger. 60 Konzerte in drei Tagen. Konzerte in der Pop Bar, Konzerte im Tonstudio, im Spiegelzelt, auf der Hauptbühne und … in der Kirche. Am zweiten Tag: Bach. BWV 150. Eine Kantate für Soli, Chor und Orchester: „Nach dir, Herr, verlanget micht“. Träumt weiter, mag man denken. Eine Kantate morgens um 11 Uhr in der Kirche. Wer kommt denn da hin? Da liegen sie doch in den Zelten und kühlen den Vortagsrausch. Und dann: Die Kirche proppevoll. Kein Platz ist frei. Wer Stecknadeln dabei hätte, könnte sie fallen lassen. Alle würden es hören.

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Die Band “Intergalactic Lovers” begeisterte die Haldern-Pop-Besucher. NN-Fotos: Rüdiger Dehnen

War das hier nicht ein Pop Festival? Und wenn ja, warum hören die sich Bach an? Antwort: Haldern ist ein Raum im Kopf – einer der nicht abgeschlossen ist – nicht verkorkt und also nicht verkorkst. Haldern öffnet Räume. Wer sich nicht traut, kommt nirgends an. Aber: In Haldern hausieren sie nicht mit dem Besonderen. Es fährt kein Auto durchs Dorf, um per Lautsprecher die Anwesenheit einer lebenden Legende zu verkünden. Seymour Stein – eine gedachte Kraft im Hintergrund. Das musst du dir leisten können. Trotzdem: Kein Hintergrund ohne Vordergrund. Seymour Stein allein ist zwar ein schönes Stück Geschichte, aber kein Grund, dass Menschen Monate, bevor ein Festival beginnt, Karten dafür kaufen ohne auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was man Lineup nennt. Also: Niemand weiß wer spielt, aber alle wollen dabei sein. Man muss das in eine andere Welt übersetzen. Dergleichen funktioniert sonst nur bei einem WM-Finale: Menschen kaufen eine Karte ohne die Spielpaarung zu kennen. Immerhin können sie sicher sein, dass Weltklasse geboten wird. Erfolg buchstabiert sich nicht nur in Geld. Erfolg ist genutzter Freiraum. Was in Haldern passiert, hat eine interne Logik, aber eine Garantie kann es nicht geben. Haldern ist das Zurverfügungstellen von Zutaten – das besondere Arrangement einer besonderen Wirklichkeit. Haldern ist eine chemische Reaktion außerhalb des Labors. Haldern ist eine Einladung an das Besondere. Was hier funktioniert, ist nicht Ergebnis einer ausgehöhlten Erfolgsmathematik, die nichts als Zahlen im Kopf hat. Natürlich kann man die besten Bands holen und 60.000 Menschen einladen. Mathematik der gesetzten Größen. Mathematik, die nichts meint als den Erfolg, der durch Zahlen tänzelt.

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Buntes Treiben im Publikum.

Haldern geht anders, denkt man und stößt jedes Jahr neu an die Verstehensgrenze. Haldern lässt sich erleben. Aber erzählen? Haldern erzählen geht nicht allein in Tönen, es geht nicht in Zahlen. Natürlich: Man könnte alles filmen, alles aufnehmen und trotzdem den Kern nicht treffen, denn es müssten 6.500 Filme sein – einer für jeden Besucher. Das ist der Platz, den es braucht. Wenn einer käme und Haldern eins zu eins kopieren und verpflanzen könnte – es wäre nicht Haldern. Haldern bleibt, aber es ist nicht transplantierbar, weil Heimat nicht transplantierbar ist. Heimat stellt Identität zur Verfügung – auch für Zugereiste, auch für Dreitagesgäste. Vielleicht ist es das. Vielleicht ist es schlüssig, dass eine der Bands beim Haldern Pop 2015 „The Slow Show“ heißt. Erfolgszahlen sind heimatlos. Sie haben keine Basis. In Haldern sitzen Leute, die als Geschmacksteiler tätig sind. Einladung zum Mitfreuen. Haldern ist anders. Haldern ist ein Experiment. Jedes Jahr neu und wenn man schon jetzt wüsste, dass Haldern nicht mehr stattfindet, würden die Sehschlitze feucht werden. So bleibt am Ende diese Mischung aus einem schönen Erlebnis, dass sich schon beim Abfahren mit der Vorfreude verbrüdert. It all looks different these days, but it‘s still the same.

[quote_box_left]Weitere Bilder vom diesjährigen Haldern Pop Festival gibt es in der Bildergalerie auf www.niederrhein-nachrichten.de[/quote_box_left]Haldern ist ein Raum: Auf der Landkarte, im Kopf, in der Seele. Im eigenen Leben. Im Leben der anderen. All das wird jährlich neu justiert und zusammengesetzt. Heimat ist ein Ort der Gemeinsamkeit im Bewusstsein. Mehr als die Bühne, die sie Stück für Stück abtransportieren. Mehr als ein Dorf im Grünen. Haldern als Angebot – das reicht nicht. Es braucht Menschen, die das Angebot nutzen und sich als Teil des Besonderen begreifen. Haldern ist mehr als die Summe aller Einzelteile. Haldern ist ohne die Musiker so wenig denkbar wie ohne das freundliche Lächeln der Securityleute, die Besucher, die Aktionäre. Haldern ist der dritte Raum, der Ort und Zeit verbindet. Haldern ist die Verbesonderung des Normalen und die Ermöglichung des Wunderbaren im Alltäglichen. Haldern ist ein Stück Grenzvernichtung im vermeintlichen Minenfeld zwischen U(unterhaltung) und E(rnst) – ein Stück Philosophie auf dem Land.

Im letzten Jahr hatten sie einen Chor eingeladen und ein Ensemble mit klassischen Instrumenten. In diesem Jahr spielen sie zusammen. Das ist der dritte Raum. Es braucht Zeit. Man kann Haldern über die Musik entschlüsseln – ganz bestimmt, aber der Mehrwert beginnt bei der Transfusion ins Restleben.

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