Baumhaus im Central Park

NIEDERRHEIN. Paula Roesch ist irgendwie anders. Gut anders. Grundiert. Geerdet. Paula ist unternehm ungslustige 28 Jahre alt. Ihre Jugend hat sie in Kleve gelebt. („Als ich acht war, sind wir von Düsseldorf nach Kleve gezogen.”) Paula Roesch ist irgendwie anders. Gut anders. Grundiert. Geerdet. Paula ist unternehmungslustige 28 Jahre alt. Ihre Jugend hat sie in Kleve gelebt. („Als ich acht war, sind wir von Düsseldorf nach Kleve gezogen.”) Der Paula-Status: Eingeschränkte Ureinwohnerin. Ihr Vater: Kunstlehrer. Die Mutter: Psychologin. Die „kleine” Schwester: Paula minus sechseinhalb Jahre. Die Schule: Erst Marienschule, dann Stein. (Für Nicht-Klever: Freiherr-vom-Stein-Gymnasium.)

Paula Roesch mit ihrem Tätowiewerkzeug. Die Stöcken kommen aus dem Wald, die Nadeln sind die, die auch in Maschinen verwendet werden, der Faden transportiert und hält die Farbe. NN-Foto:R. Dehnen
Paula Roesch mit ihrem Tätowierwerkzeug. Die Stöcken kommen aus dem Wald, die Nadeln sind die, die auch in Maschinen verwendet werden, der Faden transportiert und hält die Farbe.
NN-Foto:R. Dehnen

Manche winden sich vor und nach dem Abi in Berufswahlwehen. Für Paula stand lange fest: Sie wollte Kunst studieren. Vorher allerdings war sie „noch ein bisschen unterwegs”. Wwoofing. Das steht für World-Wide Opportunities on Organic Farms. Wikipedia sagt: „Ein weltweites Netzwerk, das von der Idee getragen wird, Menschen zusammenzubringen, die einen naturverbundenen Lebensstil auf dem Land führen – oder aktiv kennenlernen wollen. Im Zentrum stehen dabei Aufenthalte von freiwilligen Helfern auf Bio-Bauernhöfen oder Selbstversorgerhöfen. Zwischen WwooFern und Hofbesitzern findet ein an ein Gastverhältnis angelehnter geldloser Austausch statt, bei dem WwooFer freiwillig helfend in den Alltag auf einem Hof eingebunden werden.”

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Paulas Wwoof-Stationen: Norwegen, Schweden, Griechenland. Danach Kunst und Soziales: Museum Schloss Moyland und Robi. Robi? „Das ist der Robinson-Spielpatz in Kleve.” Paula – denkt man – würde auch eine 1A Sozialpädagogin abgeben, denn sie kommuniziert aus Überzeugung. Nach dem Unterwegssein: Hamburg. HfBK. Das steht für „Hochschule für Bildende Künste”. Paula studiert in der Bildhauerklasse und wohnt mitten in der Stadt. Vielleicht nicht ihr Ort. Vielleicht nicht ihre Hochschule. Paula wechselt den Ort, aber nicht das Fach. Sie geht nach Münster, studiert Kunst bei Lili Fischer. („Das war genau meine Lehrerin.”) Paula wohnt jetzt stadtauswärts: In einer Jurte. 2.000 Quadratmeter Garten drumrum. Irgendwie anders. Gut anders.

2013: Examen. Lebensthemen: Zeichnen, „Sachen bauen”, Bücher machen. Bücher machen bedeutet: Skizzenbücher, Künstlerbücher. („Alles, was mit Büchern zu tun hat, hat mich immer interessiert.”) 2014: Wohnortwechsel. Der VW-Bus. Raus aus der Jurte – rauf auf die Räder. Irgendwie anders. Und wovon lebt frau: „Kunstpädagogik zum Beispiel und Wildnis-Pädagogik.” Kunst und Soziales. Irgendwie schräg, aber gut schräg. Paula arbeitet für das Museum Schloss Moyland und für „Draußenzeit” in Münster. (Draußenzeit – Natur und Wildnis im Münsterland.) Kunst das eine – Wald das andere. Trotzdem irgendwie ähnlich. Kunst und Wald sind ein Abenteuer. Geschenkt gibt‘s nix – hier nicht und da nicht.

Dann: Der Zufall. Vielleicht auch die Bestimmung. Nach dem Wohnortwechsel eine zusätzliche Richtungsänderung. Paula trifft Laura. Laura ist Tätowiererin. Laura tätowiert anders. Gut anders. „Ich habe früher nie über Tattoos nachgedacht. Das kam in meinem Kopf irgendwie nicht vor”, sagt Paula. Mit Laura kommt die Erkenntnis, dass kaum etwas so nah am Zeichnen wohnt wie das Stechen. Also doch keine Richtungsänderung. Paulas Handschrift ändert sich nicht. Was sich ändert ist vielleicht der Lebensdialekt. Eine Handschrift – neu gelesen: Stechen ist Zeichnen mit anderen Mitteln. Von Laura lernt Paula, wie man mit der Hand tätowiert. Keine Maschine, die mit 80 bis 150 Stichen und mehreren Nadeln Bilder in die Haut fräst. Paula braucht Hölzchen, Nadel und Faden. Drei bis vier Stiche setzt sie pro Sekunde. („Das ist ein bisschen wie beim Radieren.”) Die Nadel: Identisch mit denen, die auch in die Tattoo-Maschinen eingesetzt werden, aber dann hat es sich mit den Gleichheiten. Paulas Hölzchen sind Stöckchen, die sie im Wald erntet und dann schnitzt. Auf die Spitze kommt die Nadel. Und wofür ist der Faden? „Der Faden hält die Farbe”, erklärt Paula. Der Faden wird also in die Farbe getaucht und transportiert dann Stich für Stich und Punkt für Punkt die Farbe unter die Haut. „Das Ganze ist viel schonender als ein Tattoo, das mit der Maschine gestochen wird”, sagt Paula.

Was sie ihren Kunden unter die Haut sticht sind Kunstwerke der anderen Art. „Viele Arbeiten von mir sind schwarzweiß. Das hat auch damit zu tun, dass ich grafisch denke.” Das heißt nicht, dass in Paulas Tattoos keine Farben auftauchen. Natürlich ist das eine Frage der Kunden – der Wünsche – der Vorstellungen … Was Paula am Tätowieren liebt, ist nicht zuletzt die Kommunikation mit ihren Auftraggebern. Auftraggeber – das ist irgendwie kein Paula-Wort. „Die wenigsten haben eine klare Vorstellung. Das Spannende ist für mich, aus einer vagen Idee mit den Kunden zusammen etwas zu entwickeln.” „Tätowieren”, sagt Paula, „ist eine Dienstleistung. Darin steckt das Wort dienen.” Also: Hautkunst als Ergebnis eines Kommunikationprozesses. Kunst als Ergebnis eines direkten Dialogs.

[quote_box_left] Mitmachen Wir brauchen neues „Futter” für unsere Serie „Stechen geblieben”. Wer seine ganz persönliche Tattoo-Geschichte erzählen möchte, kann sich gerne bei uns melden. Einfach eine E-Mail mit Infos (kurz) an tattoo@nno.de schicken und die Telefonnummer nicht vergessen.[/quote_box_left]Zurück zum Anfang – zurück zum „irgendwie anders”. Paula ist keine Werbefläche in eigener Sache. Ihr einziges Tattoo: Ein erdnussgroßes Blatt auf dem linken Daumen – selbst gestochen. Nein – derzeit sind keine weiteren Tattoos geplant. Denkt frau darüber nach, was die Menschen am Tattoo reizt? „Da kommen ganz verschiedene Aspekte zusammen. Was die einen davon abhält, sich ein Tattoo stechen zu lassen, ist für die anderen der Ansporn. Da ist etwas, das bleibt. Und zwar für immer. Da entsteht also eine Art Konstante im Leben. Dazu kommt, dass Tätowieren etwas sehr Archaisches ist, und natürlich ist das auch ein Trend. Für manche ist das Tattoo vielleicht auch eine Art Schutz. Eine Aussage ist es fast immer.” Wo arbeitet Paula? Sie ist eine Art Gasttätowiererin. „Ich arbeite zum Beispiel mit einem Kölner Studio zusammen. Wenn ich also Kunden habe, dann treffe ich sie dort.” Gibt es verrückte Ideen? Was ist schon verrückt? „Ich würde gern Gemüse oder Handwerkszeug tätowieren”, sagt Paula und überlegt dann laut, ob „das nicht ein bisschen verrückt” klingt. „Ich kenne eine Sozialarbeiterin in Geldern, die hat einen Kopfsalat auf dem Arm”, sage ich. Nichts ist unmöglich. Gibt es eigentliche viele Tätowierer, die mit Stöckchen, Nadel und Faden arbeiten? „Schwer zu sagen. Vielleicht eine handvoll in Deutschland.” Wie kommt frau an Kunden? Da geht natürlich viel über Mund-zu-Mund-Propaganda. Jemand sieht ein Tattoo und fragt: „Wer hat‘s gemacht?” Gibt es eigentlich Doubletten? Was passiert, wenn jemand kommt und sagt „Ich möchte das genau das Tattoo, das meine Freundin auch hat”? „Es gibt keine Dopplungen. Wenn jemand mit einem solchen Wunsch käme, dann würden wir darüber reden, wie etwas Ähnliches aussehen könnte.” Die Arbeit beginnt für Paula nach der Auftragserteilung. Die ist mit einer Anzahlung verbunden. Kunst gibt‘s nicht zum Nulltarif. Wenn Paula zu Stöckchen, Nadel und Faden greift, ist das schließlich nicht der Anfang ihrer Arbeit – es ist das Ende, bei dem es darum geht, den vorher erarbeiteten Entwurf umzusetzen. Paula ist im übertragenen Sinn Architekt und Polier in Personalunion. Eine Sitzung kann gut und gern auch mal sieben oder acht Stunden dauern. Was ist eigentlich schmerzhafter? Maschine oder Stöckchen? „Kunden, die schon beides erlebt haben, sagen mir immer wieder, dass das Tätowieren mit der Hand wesentlich sanfter ist und schneller abheilt.” Paula bei der Arbeit? Kein Problem. Auf Facebook (facebook.com/roeschpaula) finden sich Bilder und ein Video. Ganz oben auf der Seite steht: Paula Roesch, Künstlerin. Paula, das steht fest, ist nicht die klassische Stadtfrau. Städte sind oft geng ein naturfernes Konstrukt. Irgendwie das Gegenteil von Paula. Einzig denkbare Adresse: Ein Baumhaus im Central Park … oder ein Hausboot auf dem Rhein.

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